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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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erkannte an ihrer Haltung, dass sie fest schlief. Sie ruhte sich nicht aus oder entspannte sich, befand sich nicht in dieser stillen Phase zwischen Schlafen und Wachsein, die man hätte stören können. Ihre Schlafstellung war so vollkommen wie sie selbst. Sie lag flach auf dem Rücken, die Arme an den Seiten, die Beine schnurgerade auf dem Betttuch aufliegend. Wenn sie am Morgen aus dem Bett aufstand, würde es so gemacht aussehen, als hätte sie überhaupt nicht darin geschlafen. Am liebsten hätte ich sie wachgerüttelt und gefragt, ob sie etwas von Bernard gehört hatte, dachte sogar ernsthaft darüber nach, blieb jedoch mit schlechter Laune und vor Verlangen ganz unruhig in der Schlafzimmertür stehen. Ihr Handy vibrierte wegen einer eingehenden Nachricht, es lag auf dem Nachttisch neben dem Bett. Mit seinem unheimlichen blauen Licht erhellte es das Schlafzimmer. Caroline rührte sich nicht. Flüchtig überlegte ich mir, das Handy zu nehmen, um nachzusehen, ob die Nachricht von Bernard stammte. Ich machte es nicht. Stattdessen ging ich zu Bett und träumte von Patrick.
     
    Es ist jener Tag. Es ist immer jener Tag. Er steht im Ozean, hält etwas in seinen Händen. Es sieht aus wie ein Brief. Es ist ein heißer, aber trüber Tag, die Sonne versteckt sich hinter
einer dicken Wolkenwand, die sich den ganzen Nachmittag nicht auflöst.
    »Hier«, ruft Patrick und streckt mir die Hand hin. Über das tosende Meer hinweg kann ich ihn nicht hören. Ich gehe auf ihn zu, doch Patrick schüttelt den Kopf.
    »Nein, Grace. Du kannst nicht hereinkommen.« Seine Stimme ist ein Echo.
    Er steht bis zu den Hüften im Wasser. Die Wellen, die über seinem Kopf zusammenschlagen, machen ihn nicht nass. Er lächelt.
    »Komm zurück, Patrick.« Niemand achtet auf mich, und es ist, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden. Der Sand zwischen meinen Zehen fühlt sich warm an.
    »Mach dir keine Sorgen, Grace. Mir wird es gutgehen. Alles wird gut werden.« Seine Stimme ist jetzt schwächer, und ich laufe zum Wasser, aber egal wie schnell ich laufe, ich komme nie näher heran. Er ist jetzt weiter weg, das Wasser schwappt über seine Schultern.
    »Komm zurück, Patrick.« Obwohl ich schreie, gleichen die Worte einem Flüstern, das vom Wind fortgetragen wird. Es ist, als hätte ich gar nichts gesagt.
    »Komm zurück, Patrick.« Nun bin ich ganz erschöpft, sitze am Rand des Strands, meilenweit vom Wasser entfernt. Ich kann ihn nicht mehr sehen, die Trübheit dieses Tages drückt mich auf den Sand hinunter, und ich schließe meine Augen gegen die brutale Hitze.

35
    »Ich nehme an, du hast nie etwas von einem … Seher … namens Samuel Soundso gehört, oder?«, fragte ich so ganz nebenbei Laura am nächsten Tag beim Mittagessen, während ich Erbsen aus meiner Erbsensuppe klaubte. Laura stand auf esoterischen Kram, und das schloss Handlesen, Tarotkarten, Kristallkugeln und Wahrsagen aus Teeblättern mit ein.
    »Du meinst Samuel, den Seher aus Bolivien?« Lauras Kopf fuhr hoch, als würde er an Fäden hängen.
    »Äh, ja. Nehme ich mal an. Ich meine, Bolivien ist ein großes Land, da bin ich mir sicher. Es könnte dort unzählige Samuels geben.«
    »Nein, Grace, es gibt nur einen.« Lauras Stimme klang ehrfurchtsvoll, und sie beugte sich flüsternd zu mir. »Warum erwähnst du ihn?«
    »Na ja, eigentlich wegen Mary«, begann ich.
    »Granny Mary?«
    »Ja.«
    »Was ist mit ihr?«
    »Sie ist hingefahren, um ihn zu treffen. Samuel, meine ich. In Bolivien.« Lauras Augen wurden größer und größer, bis es wirkte, als würden sie gleich wie ein Fluss im Frühling über ihre Ufer treten. Sie neigte ihren Kopf noch näher zu mir, ihr Kinn streifte beinahe über die Resopaltischplatte.
    »Sie hat ihn gefunden?«, brachte Laura schließlich heraus.

    »Nun, ja. Offensichtlich steht er im Telefonbuch.« Diesen Teil dachte ich mir nur aus und erntete dafür von Laura einen vernichtenden Blick.
    »Was hast du also über den Kerl gehört?«, fragte ich sie, während ich ein Stück Brot in die Suppe tauchte, bis es so grün war wie der St. Patrick’s Day.
    »Er besitzt die Gabe des Sehens.« Laura hätte sich fast mit dem Kopf verbeugt, als sie Gabe des Sehens sagte. »Er kann die Zukunft so deutlich sehen, wie du und ich uns daran erinnern, was wir gestern zu Mittag gegessen haben.« Wir legten beide die Stirn in Falten und versuchten uns zu erinnern. Eigentlich ist das kniffliger, als man denkt. Insbesondere wenn man regelmäßig in einer Firmenkantine

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