Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
Vom Netzwerk:
sie nicht durch die Schiebetüren kommen sehen? Vermutlich machte eben dies das Rätselhafte an Mary aus. Sie lächelte, indem sie die eine Zahnreihe über die Lippen schob, ohne sich darum zu scheren, dass ihre Zähne lang und gelb waren und sich zwischen den zwei längsten Schneidezähnen ein Stückchen Speck verfangen hatte. Sie hielt etwas in der Hand, mit dem sie mir zuwinkte. Eine Holzschnitzerei. Vielleicht ein Elefant? Mit einem sehr langen Rüssel.
    »Er steht für Fruchtbarkeit, Grace«, brüllte sie mir zu.
    Da sie selbst auf dem rechten Ohr ein wenig taub war, nahm sie an, dass wir anderen eine ähnliche akustische Herausforderung zu meistern hätten. Wie immer drehten sich die Leute nach uns um. Ich nahm die Figur aus ihrer
ausgestreckten Hand entgegen und sah sie mir an. Es war kein Elefant. Es war ein Mann. Ohne Gesicht und mit Penis. Einem langen, dicken, den ich mit meiner Hand umfasste. Ich ließ ihn wie eine heiße Kartoffel in meine Tasche fallen und sah Mary an. Sie wäre so groß wie ich gewesen, hätte es da nicht den Buckel gegeben, der jedes Mal, wenn ich sie sah, noch deutlicher zu erkennen war. Da half auch der Rucksack nichts, der sich hinter ihren Schultern erhob und an dem es baumelte und schepperte, wenn sie sich bewegte, da er übersät war mit Bändern, Flaggen und Muscheln, die an einem groben Bindfaden hingen.
    »Ich hole dir einen Gepäckwagen, Mary. Warte hier.« Eben schickte ich mich an zu gehen, als sie mich am Arm packte. Ihre Hände waren wie Schaufeln, und ihr Griff war kräftig.
    »Noch bin ich nicht tot, Mädchen. Komm her zu mir.« Mit dem Rucksack auf ihrem Rücken war es schwierig, sie zu umarmen, aber ich versuchte es trotzdem. Ihr langes, dickes graues Haar fiel ihr über den Rücken und roch nach warmen Äpfeln.
    Mary löste sich, hielt mich auf Armeslänge von sich und musterte mich von oben bis unten wie ein Pferd, das sie sich überlegte zu kaufen.
    »Du bist dünn geworden, Grace«, sagte sie so laut, als würde sie sich an die ganze Ankunftshalle wenden und nicht nur an mich, die einen Meter vor ihr stand. Noch mehr Leute schauten zu uns herüber, und ich wand mich unter ihren prüfenden Blicken. Mein Gott, die Leute mussten denken, ich wäre früher ein richtiger Walfisch gewesen.
    »Komm«, sagte ich. »Lass uns hier verschwinden. Möchtest du direkt nach Hause? Oder soll ich dich erst zu Mam bringen?«
    »Herrgott, nein, Mädchen.« Mary beugte sich hinunter,
um einen Ring aus zerdrückten Plastiktaschen aufzuheben, der um ihre Füße herum lag. Ohne Zweifel noch weitere Fruchtbarkeitsgeschenke.
    »Ich will in ein Pub. Ich will Whiskey aus einem guten, schweren, sauberen Glas trinken. Und zwar in einem Biergarten, wo ich eine Zigarette rauchen kann.« Sie schaute mich an, und ich nickte, wobei ich ihr die Taschen aus der Hand zerrte. Das war etwas, was ich machen konnte. Eine Bitte, die ich erfüllen konnte.
    »Folge mir«, sagte ich mit Autorität in der Stimme. Mit unserer Größe und Marys Rucksack, der wie eine Massenvernichtungswaffe unmittelbar vor der Detonation wirkte, teilten wir beide die Menge mühelos.
    Ich fuhr sie zu ihrem Stammlokal in Baldoyle, wo sie mit einer Begeisterung begrüßt wurde, als wäre sie ein Soldat, der aus dem Krieg heimkehrte.
    »Mary?«
    »Bist du’s?«
    »Du siehst gut aus.«
    »Stimmt es, dass du dich einem Eingeborenenstamm angeschlossen hast? Eine von denen geworden bist oder so? Wie dieser, wie heißt der gleich nochmal in dem Film?«
    »Einen Drink auf Kosten des Hauses, Mary?« Auf diese Frage brüllte Granny dem Barmann über die Köpfe ihrer betagten Bewunderer hinweg sofort eine Antwort zu.
    »Einen Whiskey für mich und einen für das Mädchen, Paddy. Kein Eis, kein Wasser, keine Manscherei.«
    Paddy, der schon hinter seiner Theke gestanden hatte, als ich noch ein Winzling mit einer Flasche TK-Limo, einem Strohhalm und einer Packung Chips war, formte mit dem Mund die Worte »Wie immer?« in meine Richtung, und ich lächelte ihm mit einem verstohlenen Kopfnicken zu.

    »So«, sagte Mary, als sie endlich ihrer Dubliner Fanmeute entflohen war. Wir saßen im Biergarten im Schutz eines Heizstrahlers, der oben orangefarben glühte wie heiße Asche. Trotzdem war es kalt, weswegen ich meine Haare löste und sie wie einen Schal um meine Schultern legte.
    »Erzähl mir, was hier so los war.« Sie öffnete ihren Tabakbeutel und streute etwas davon auf das längliche weiße Zigarettenpapier, das sie flach auf den Tisch

Weitere Kostenlose Bücher