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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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gelegt hatte. Der Tabak roch alt und süßlich. Mit zwei Fingern drückte sie ihn sanft nach unten und führte das Papier, das Ritual sichtlich genießend, langsam an ihre Lippen. Behutsam rollte sie die Zigarette zwischen den Fingern und ließ sich von mir Feuer geben. Das ganze Prozedere dauerte etwa zehn Sekunden. Sie machte das, seit sie auf ihren langen Haaren sitzen konnte.
    Sie zog lange und intensiv an ihrer Zigarette, widmete sich ihr wie ein Hund seinem Knochen. Und dann – und das ist der entscheidende Punkt – öffnete sie weit den Mund, ließ die Rauchwolken herausströmen und nach oben schweben, wo sie wie ein Heiligenschein um ihren Kopf hingen. Sie hatte nicht inhaliert. Das hatte sie nie gemacht. »Wie Bill Clinton, was?«, sagte sie immer mit ihrem dämonischen Kichern. Ich steckte mir eine Zigarette an, trank einen großen Schluck aus meinem Glas (Gin Tonic, an sich nicht mein üblicher Drink, aber ich trank es immer in Grannys Stammlokal) und schaute mich um, als würde ich nach Mithörern Ausschau halten. Ich wollte die Situation voll und ganz auskosten. Granny beobachtete mich mit gespieltem Desinteresse.
    »Mam hat jetzt einen Freund«, sagte ich schließlich. Granny schoss in ihrem Stuhl nach vorne und schlug mit den Handflächen auf ihre Knie. Fest.
    »Wurde verdammt nochmal auch Zeit.« Sie klopfte weiter
mit beiden Händen auf ihre Knie und schaukelte mit ihrem Stuhl hin und her vor lauter Verzückung – anders kann ich es nicht beschreiben. Ihr Stock, der am Tisch gelehnt hatte, polterte zu Boden.
    »Wie heißt er?«, fragte sie, als sie das, was man in ihrer Welt so als Fassung bezeichnete, wiedererlangt hatte. Ich holte zum vernichtenden Schlag aus.
    »Jack Frost«, sagte ich, ohne die Miene zu verziehen.
    »Das denkst du dir aus.«
    »Nein, es stimmt.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Es ist so, ich schwöre es bei Pops Grab.« Pop hatten wir Grannys Mann genannt, als er noch am Leben war. Was er nicht mehr war. Seit Jahren nicht mehr. Mit Mary konnte man über Tote sprechen. Sie ging sachlich um mit Toten und mit dem Tod im Allgemeinen, was bei einem Menschen ihres Alters erfrischend war.
    »Ich nehme an, als Nächstes erzählst du mir noch, dass er Wetteransager ist oder solchen Unsinn.«
    »Nein, herrje, nichts dergleichen«, versicherte ich ihr. »Er ist Zauberer.« Ich sagte es in einem Tonfall, als würde ich »Er ist Klempner« oder so etwas sagen, und wieder war es um sie geschehen, sie schlug sich auf die Knie und krümmte sich vor Lachen, ein Lachen, das sich nach Hundegebell anhörte.
    »Himmelherrgott, aber das ist ja großartig.« Geräuschvoll leerte sie ihren Whiskey. »Es hört sich so unpassend an.« Mary strahlte mich an, begeistert darüber, dass ihre rund sechzigjährige Tochter endlich eine Tendenz zur Unberechenbarkeit zeigte, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie Mary es wohl gern gesehen hätte.
    Ich erzählte ihr, dass Mam Patricks Zimmer ausgeräumt hatte. Mit Mary konnte ich über Patrick sprechen.
Sie nahm seinen Tod hin, wie sie alles andere hinnahm. Sie war nicht froh darüber, aber so war ihrer Meinung nach das Leben, und dagegen konnte man nichts unternehmen. Sollte sie die Bitterkeit in meiner Stimme gehört haben, als ich ihr von den schwarzen Müllsäcken und den nackten Wänden erzählte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nickte einfach nur, während ich redete.
    »Das ist gut«, sagte sie. »Sie macht weiter. Es ist höchste Zeit.«
    »Es ist nicht höchste Zeit. Es ist verdammt nochmal viel zu früh. Es ist noch nicht einmal ein Jahr her«, erinnerte ich sie.
    »Nächsten Dienstag wird es ein Jahr sein, oder nicht?« Und in diesem Satz entdeckte ich einen Funken ihrer Trauer. Sie mag nicht mit den Zähnen geknirscht, sich die Haare ausgerissen oder ein Meer aus Tränen vergossen haben um ihn, aber sie hatte die Tage gezählt. Das war fast noch trauriger.
    »Wie auch immer«, sagte ich und richtete mich in meinem Stuhl auf, »du wirst Jack mögen. Aber du musst daran denken, ihn vor Mam John zu nennen.«
    Granny ging, um noch mehr Drinks zu holen. Sie bestand darauf.
    »Mir gibt Paddy vielleicht noch eine Runde auf Kosten des Hauses aus«, zischte sie mir zu, als sie sich von ihrem Stuhl hochhievte. »Gott helfe ihm, er ist ein hoffnungsloser alter Weichling, dieser Kerl.«
    »Dieses Mal bitte nur ein Tonic Water für mich. Ich fahre.« Während ihrer Abwesenheit hatte ich Zeit, eine ganze Zigarette zu rauchen, und war gerade drauf und dran, in die

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