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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Gesicht zerfloss vor Mitleid, und ich bemühte mich, es anders auszudrücken.
    »Nein, ich will damit nicht sagen, dass es seltsam ist, wenn er mich anruft oder mir mailt« – obwohl man fairerweise sagen muss, dass es das war -, »es ist nur so, dass er sich etwas mehr als üblich Gedanken darum macht, was bei mir so los ist. Das ist alles.«
    »In-te-res-sant.« Clare strich sich über das Kinn und sah vor sich hin wie ein Profi. »Shane begreift auf einer unbewussten Ebene, dass du nicht mehr so an ihm interessiert bist, wie du früher warst.«
    »Aber ich bin es«, insistierte ich und setzte mich auf meine Hände, um nicht zum Nachbartisch hinüberzulangen und mir einen Bierdeckel zu greifen.
    »Du hast kaum über ihn gesprochen, seit er wieder weg ist.« Clare spielte ihren Trumpf aus.
    »Ich bin ja kaum zu Wort gekommen bei all dem Gerede über die Hochzeit, die Blumen, die Ausstattung der Männertoiletten in Amsterdam, Richards egoistische Arbeitsethik, die Geißel der Sauberkeit in deinem Haus …«
    Clare hob lachend ihre Hände. »Okay, der Punkt geht an dich. Ich war wohl eine ziemliche Drama Queen, stimmt’s?«
    »Das steht dir zu, du heiratest.«

    »Also, erzähl mir von deinem Wochenende.« Das Wochenende schien plötzlich sehr lange zurückzuliegen, und ich versuchte mühsam, mich an etwas Gutes zu erinnern.
    »Der Coronation Street -Marathon.« Plötzlich erinnerte ich mich an die wunderschönen eineinhalb Stunden, in denen ich auf der Couch gelegen hatte, meinen Kopf in seinem warmen Schoß, die Augen auf den Fernseher geheftet, um zu sehen, wie Shelley den Gemeinheiten von Charlie, dem unverschämten Mistkerl, auszuweichen versuchte und verlor, immer und immer wieder.
    »Shanes Kontaktaufnahme …«, Clare machte sich bereit, ihre Diagnose zu stellen, »ist das männliche Äquivalent zum Markieren des Territoriums mittels Pisse.«
    »Reizend.«
    »Nein, im Ernst.« Clare setzte sich aufrecht hin, um zu zeigen, wie ernst es ihr damit war. »Tiere machen es, wenn sie sich bedroht fühlen. Zum Beispiel, wenn sie ein anderes Männchen in der Gegend wittern. Und nun zu der Sache mit Caroline und Bernard.« Offensichtlich hatte Clare den Eindruck, dass sie das eine Problem gelöst hatte und nun bereit für die nächste Herausforderung war. Sie war auf jeden Fall gründlich. Und dazu auch noch gründlich betrunken. Richard würde nicht mit mir zufrieden sein.
    »Ist Bernard interessiert?«
    »An Caroline?«, fragte ich, um sie hinzuhalten.
    »Ja.«
    »Nein.«
    »Nein, er ist nicht?«
    »Ich glaube nicht, dass er es ist. Interessiert, meine ich. An Caroline.« Durch das bloße Aussprechen wurde ich zum Judas, und der Beutel mit den dreißig Münzen lag schwer in meinen Händen.
    »Also, da hast du’s«, folgerte Clare und goss sich den
letzten Rest ihres Drinks in den Mund. »Bisher hat Caroline jeden Mann bekommen, den sie haben wollte. Sieht man einmal davon ab, dass sie keinen von ihnen haben wollte. Jetzt trifft sie auf einen, der zumindest bisher gegen ihren Zauber immun zu sein scheint. Also will sie ihn haben. So einfach ist das. Ende.« Clare schaute sich strahlend um, und ich hätte beinahe erwartet, dass kurzer Beifall aufbrandete. Sie beugte sich zu mir vor und flüsterte auf eine Weise, dass jeder in der Bar sie hören konnte: »Er ist ihr Mount Everest.«
    »Was rätst du mir also?«, fragte ich sie.
    »Friss oder stirb«, antwortete sie, und ich sah sie an, als spräche sie Chinesisch.
    »Ich kann dir nicht folgen.«
    »Vogel friss oder stirb«, erklärte sie so langsam, als würde sie mit einer Sechsjährigen sprechen.
    Noch immer keine Ahnung.
    »Grace, es ist so«, sagte sie und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Was du auch tust, einer wird dabei immer auf der Strecke bleiben. Friss oder stirb, verstehst du?«
    Clare führte ihr Glas wieder an die Lippen und schien überrascht zu sein, dass es leer war.
    »Ich hatte jetzt drei Drinks«, ihre Worte gingen ineinander über, »wenn ich einen vierten zu mir nehme, ist das ganz offiziell Komasaufen.«
    Woher hatte sie dieses Zeug bloß her?
    Entsetzt stellte ich fest, dass ich hoffte, sie würde für heute Schluss machen. Ich hatte morgen einen anstrengenden Arbeitstag, angefangen bei meinem Treffen mit Bernard (ich hatte noch immer nicht entschieden, was ich anziehen sollte).
    »Wenn man sich am letzten Dienstag seines Singlelebens nicht ins Koma saufen darf, wann soll man es dann tun?«
Resigniert nahm ich die leeren Gläser und ging

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