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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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in Richtung Bar.
    Wenn ich später kotzen sollte, würden die Karotten rosafarben sein. Nicht dass ich kürzlich Karotten gegessen hätte. Oder in den letzten zehn Jahren (hauptsächlich wegen ihres widerlichen Karottengeschmacks).
    Obwohl Clares Haus in einem zehnminütigen Spaziergang zu erreichen war, nahmen wir ein Taxi. Das mussten wir. Dank ihres Rauschs hatte Clare ihre Beine nicht mehr unter Kontrolle, sie bewegten sich unabhängig vom Rest ihres Körpers. Ich half ihr aus dem Taxi und winkte Richard, dessen Gesicht wie ein Mond hinter einem Rollo im oben liegenden Schlafzimmerfenster aufgetaucht war. Ich zog mich ins Taxi zurück, schloss die Tür und schaffte es, den Sicherheitsgurt um mich zu wickeln, und das alles in weniger als fünf Sekunden. Bedachte man meine Betrunkenheit, die vor allem auf mein Sehvermögen schlug (alles hatte plötzlich einen rosafarbenen Ton), war das nicht schlecht. Als ich zurückschaute, ließ sich Clare gerade gegen die Haustür sinken, winkte und formte mit dem Mund Worte. Ich glaube, es lautete »Mount Everest«. Es könnte aber auch »Friss oder stirb« gewesen sein. Zum Schluss sah ich, dass sie nach hinten fiel, als Richard die Tür öffnete. Mir schien es, als würde sie im Zeitlupentempo fallen, aber ich machte mir keine Gedanken, wusste ich doch, dass Richard sie auffangen würde.
     
    Ich schlich mich wie ein Dieb in die Wohnung. Eigentlich hätte ich gerne Tee und ein getoastetes Kebab-Sandwich gehabt, aber ich wollte Caroline nicht mehr aufwecken. So eierte ich geradewegs auf mein Schlafzimmer zu, auf Zehenspitzen, meinen Mantel noch an und mit angehaltenem Atem. Um zu meinem Zimmer zu gelangen, musste
ich an Carolines vorbei. Welches Dielenbrett knarrte – das dritte von der Tür aus oder das vierte? Nein, eindeutig das dritte. Ich hob meinen Fuß, der inzwischen vom Gehen auf Zehenspitzen einen Krampf bekommen hatte. Vorsichtig setzte ich ihn auf der vierten Diele ab. Sie krachte laut, das Krachen eines Donners in die Stille hinein. In Carolines Zimmer ging das Licht an und schoss unter der Tür hervor. Ich stand da, wie eine Motte im Lichtstrahl gefangen
    »Grace, was machst du da?« Das war keine unangemessene Frage. Es war zwei Uhr morgens, ich befand mich vor ihrer Schlafzimmertür, hob mich silhouettenhaft im Lichtkegel ab, balancierte – noch immer auf Zehenspitzen – auf einem Bein, trug über einem Sommerkleid einen Wintermantel (das mache ich manchmal, wenn sich die Jahreszeiten nicht schnell genug ändern). Ich ließ meinen linken Fuß zu Boden sinken und räusperte mich. Caroline bemerkte mein seltsames Verhalten kaum noch, war sie doch inzwischen viel zu sehr daran gewöhnt.
    »Ist er heute ins Büro gekommen?«
    »Wer?« Ich schindete etwas Zeit und massierte mit den Zehen meines linken Fußes die Zehen des rechten. Könnten Zehen sprechen, hätten meine vor Erleichterung deutlich vernehmbar aufgestöhnt.
    »Bernard natürlich.« Und dann, als würde sie laut denken: »Himmel, das ist so ein nerdiger Name.«
    Ich warf mich auf ihre Bemerkung wie ein Hund auf einen Knochen.
    »Er hat wirklich ein bisschen was von einem Nerd. Einem Computernerd. So nennt Laura ihn. Er spricht tatsächlich JAVA, musst du wissen. Nahezu fließend.«
    »Wirklich?« Carolines Stimme hellte sich auf. »Ich wette, es klingt umwerfend bei diesem Derry-Akzent.«
    »Donegal«, sagte ich und zog meinen Mantel aus.

    »Was auch immer.« Caroline seufzte und schlang die Arme um sich wie Eliza in My fair Lady. Jeden Augenblick würde sie anfangen durch das Wohnzimmer zu tanzen und dazu zu singen: »I could have sodding danced all bloody night«. Aber sie tat es nicht. Stattdessen fixierte sie mich mit ihrem Mission-Impossible-Blick.
    »Wird er morgen im Büro sein?«
    Ich suchte angestrengt nach einer möglichst schwammigen Antwort auf diese Frage.
    »Ja«, sagte ich.
    »Bestens«, war alles, was sie erwiderte. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück. Genauso gut hätte sie noch ein dämonisches Lachen von sich geben können.
    »Was hast du vor?« Es war ein Flüstern. Ich stand noch immer da, wo sie mich entdeckt hatte, meinen Mantel – genau genommen ihren Mantel – über einem Arm. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper.
    »Was jede normale heißblütige Frau tun würde«, antwortete sie mit ihrem machiavellischen Lächeln, bevor sie gute Nacht sagte und die Tür schloss.
    Aber Caroline war keine normale heißblütige Frau. Sie war in der Liebe noch nie enttäuscht worden. Warum

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