Tag vor einem Jahr
Auto. Den Gedanken in meinem Kopf waren Flügel gewachsen, sie schwirrten am Rande meines Bewusstseins herum und bettelten um Aufmerksamkeit: Shane, die bevorstehende Unterredung mit meinem Boss am Montagmorgen, die angespannte Beziehung zwischen mir und meiner Mutter, die Sache mit Bernard O’Malley.
Und Patrick. Doch ich konnte nicht gleichzeitig an ihn denken und fahren. Genau genommen konnte ich überhaupt nicht an ihn denken.
6
Meine Wohnung lag in der Cowper Road in Rathmines, im ersten Stock eines Hauses aus der Backsteinzeit, das vorne eine offene Veranda und hinten einen weitläufigen, überwucherten Garten besaß. Caroline und ich lebten dort seit zwei Jahren, und der Vermieter, ein Schatz, hatte seit unserem Einzug die Miete nicht erhöht. Im Gegenzug passten wir auf seinen Vater auf – den alten Jenkins, der im höhlenartigen Erdgeschoss des Hauses lebte. Dies bedeutete in erster Linie, ihm im Voraus Bescheid zu sagen, wenn wir eine Party veranstalteten, um ihm das Gefühl zu geben, dass er sich am darauffolgenden Tag nicht über den Lärm beschweren durfte, und zu ihm hinunterzurufen, wenn wir pleite waren, damit er uns getoastete, dich mit schwarzem Pfeffer bestreute Käsesandwichs zubereiten und uns enorme Mengen von dem übelriechenden Whisky einschenken konnte, den er am liebsten hatte. Wann immer ich Bargeld besaß – normalerweise die ersten Tage nach der Gehaltsauszahlung, bevor das Konto wieder überzogen war -, kaufte ich ihm eine Packung blaue John Players und eine Ausgabe der Racing Post. Er war das, was man »einen perfekten Gentleman« zu nennen pflegte, ein eleganter kleiner Mann, makellos gekleidet in einem Anzug, der ihm inzwischen zu groß war, und mit einer Fischerkappe auf dem Kopf, die er auf der Straße Vorübergehenden gegenüber grüßend lüftete.
Ich sah auf dem Tisch in der Diele nach, ob Briefe gekommen
waren. Meine Post bestand ausschließlich aus Prospekten und einer Kreditkartenabrechnung, die so dick war wie das Telefonbuch. Ich vermisste es, richtige Briefe in der Post vorzufinden. Patrick schrieb richtige Briefe. Er liebte es, zu schreiben. Liebte diese Verbindung zwischen Stift und Papier. Er nannte es Magie. Er wäre gern Schriftsteller gewesen, war aber stattdessen Buchhalter. Wie lautete doch gleich dieses Zitat von Oscar Wilde?
Unser wirkliches Leben ist oft ein Leben, das wir gar nicht führen.
Patrick war ein großer Schreiber. Er konnte sich auf dem Papier richtig gut ausdrücken. Man sah sein Gesicht und stellte sich seine Gesten vor, während man seine Briefe las.
Ich ignorierte die Post, ging den Flur entlang und kramte währenddessen nach meinem Schlüssel.
Ich hatte die Wohnung für mich. Caroline war bei einem Blind Date, das Richard, Clares Zukünftiger, vor Wochen arrangiert hatte. Richard gehörte zu jenen Menschen, die der Ansicht waren, niemand könne glücklich sein, solange er nicht die eine Hälfte eines Paares war, das Dinnerpartys veranstaltete und bei dem der eine jeweils die Sätze des anderen beendete. Er hatte versucht, mich mit einigen seiner Cousins zu verkuppeln. Bevor ich Shane kennenlernte, natürlich. Er besitzt haufenweise Cousins.
Für den Fall, dass der Kerl sich als ein minderbemittelter Psychopath herausstellte, ging Caroline zu einem ersten Blind Date immer nachmittags. Glaubte man ihr, zeigten sich seelische Störungen nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Diesbezüglich war sie abergläubisch.
Ich schaute auf meinem Handy nach, ob neue SMS eingegangen waren. Nichts. Um ganz sicherzugehen, dass
mir keine entwischt war, während ich nicht hingesehen hatte, wählte ich im Menü »Posteingang«. Noch immer nichts. Ich hörte die Mailbox ab. In kurzen, unmissverständlichen Worten sagte sie mir: »Sie haben keine neuen Nachrichten.«
Ich überlegte mir, Shane anzurufen, und kaum war der Gedanke in meinem Kopf aufgetaucht, wusste ich, dass ich es tun würde. Ich wusste auch, dass ich es nicht tun sollte. Es verstieß gegen die Regeln (laut Laura). Regel Nr. 32(b), Unterabschnitt III besagt eindeutig: »Wenn du deinen Freund angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen hast, ist es strengstens verboten, ihn nochmals anzurufen, solange er deinen Anruf nicht beantwortet hat.« Die Regel veränderte sich leicht, wenn man angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen hatte, doch da befand man sich in einer Grauzone, die davon abhing, ob der Anruf auf eine Festnetznummer erfolgt war, die keine Anruferkennung oder eine ähnliche
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