Tag vor einem Jahr
seine spärlichen Haarsträhnen vom Kopf. Ich zwang mir ein Lächeln ins Gesicht und ging sehr langsam auf ihn zu. Er wirkte nervös.
»Äh, Grace, ich bin froh, Sie hier zufällig zu treffen, wirklich. Es gibt da etwas, was ich, äh, am Montag mit Ihnen besprechen muss. Können Sie um, sagen wir mal, 14 Uhr zu mir kommen?« Er sah auf seine Füße hinunter, als bewunderte er den Glanz seiner schwarzen Lackschuhe. Anschließend würdigte er seine makellos gepflegten Nägel und strich seine Krawatte glatt, die ihm vom Wind ins Gesicht geweht worden war.
Meine sichere kleine Arbeitswelt geriet in Schieflage, und ich bekam Angst. Bernard schien gestern Nacht ziemlich überzeugt, dass die Knaben vom Vorstand über eine große Flut von Entlassungen nachdachten, und er schien zu wissen, wovon er sprach. Ich war eine aus einer Schar von Schadensbeauftragten in der Haftpflichtabteilung, und auch wenn ich nicht gerade die undisziplinierteste Mitarbeiterin war, so verbrachte ich doch ziemlich viel Zeit damit, mit Freunden zu telefonieren, zu googeln und gelegentlich an Freitagnachmittagen um 16 Uhr 45 meine Haare zu frisieren, obwohl ich mir vollauf bewusst war, dass das Niederlegen der Arbeit eigentlich nicht vor 17 Uhr erfolgen sollte, vielen Dank! Was würde ich anfangen, wenn ich meine Stelle verlor? Und was noch wichtiger war: Wie würde ich es meiner Mutter beibringen?
»Sicher«, sagte ich, »kein Problem. Gibt es einen besonderen Grund für das Gespräch?« Ich stellte die Frage so beiläufig, wie ich nur konnte.
»Wir unterhalten uns am Montag darüber, Grace.« Er wandte sich bereits zum Gehen. Ich war entlassen.
Ich muss bestürzt ausgesehen haben, denn Ciaran kam herüber und lud mich auf einen Kaffee in sein Büro ein. Da er sich im vergangenen Jahr zu einem guten Freund entwickelt hatte, war ich versucht, die Einladung anzunehmen. Es hatte sich herausgestellt, dass wir viele Gemeinsamkeiten besaßen. Er stammte aus einer Familie mit vier Kindern, war der Einzige, der unverheiratet war, der Einzige, der nie die Universität besucht hatte, der Einzige, der in einer Mietwohnung lebte. Allerdings war Ciaran homosexuell, im Gegensatz zu mir (sofern man das eine Mal während des Aufenthalts in der Gaeltacht, im Alter von sechzehn Jahren, nicht zählte). Er hatte seine sexuelle Veranlagung entdeckt, bevor Schwulsein, Fitnessstudios und weiße Unterhemden modern wurden, und lebte mit seinem Freund Michael, den Ciaran allerdings uns gegenüber nie als solchen bezeichnete, in einer Wohnung in der Camden Street. Michael arbeitete als Chefkoch in einem vornehmen Hotel in der Stadt (ich nenne den Namen des Hotels besser nicht, denn Michael hatte sich öffentlich nie richtig zu seiner Homosexualität bekannt, war er doch ein strenggläubiger Presbyterianer aus Armagh, besaß eine Exfrau und drei erwachsene, heterosexuelle Söhne). Ich hatte Michael schon oft getroffen, und seine tiefe, kameradschaftliche Verbindung zu Ciaran weckte in mir die Sehnsucht nach einer Beziehung wie dieser. Nach jemandem, mit dem man Karten spielen, mit dem man alt werden konnte, jemandem, der glücklich – nein, überglücklich – darüber wäre, seine Zeit mit mir verbringen zu dürfen und mich nicht in
irgendeiner Weise verändern wollte. Nach jemandem, mit dem ich in behaglichem Schweigen zusammensitzen konnte, nur gelegentlich unterbrochen vom knusprigen Knacken eines Schokoladeneises, das seiner Vernichtung entgegenging – zuerst die Schokolade, danach das Ablecken ( niemals Abbeißen) der Eiscreme.
In meinen Zigarettenpausen saß ich oft bei Ciaran in der Wächterkabine. Laut Ciaran, der auf einem Fußschemel hockte und gemächlich an seiner kalten Pfeife zog (er hatte vor mehreren Jahren aufgehört), galt hier das Rauchverbot nicht. Er teilte seine Thermoskanne Kaffee mit mir und gab manchmal, wenn es richtig kalt war oder ich eine Stinklaune hatte, einen Schluck Whiskey dazu. Meine Stinklaune konnte von einer Menge Dinge ausgelöst werden: von Menstruationsbeschwerden; weil ich absolut nichts zum Anziehen besaß für ein bevorstehendes Fest; weil ich – wieder einmal – eine Diät abgebrochen hatte; weil ich pleite war; von Shane; meiner Mutter; dem Wetter; dem Chef; einem abgebrochenen Fingernagel; meinem Hüftumfang; dem Zustand meiner Haare. Ciaran saß da und hörte zu. Er erinnerte mich an meinen Vater. Er war immer auf meiner Seite.
Ich lehnte sein freundliches Angebot, mit ihm Kaffee zu trinken, ab und ging zu meinem
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