Tag vor einem Jahr
Chef.« Ich kroch mit dem Po voran unter dem Schreibtisch hervor und richtete mich auf. Fast hätte ich ihm mit meinen Brüsten, die in einen sehr engen BH gesperrt waren, der sich an den Brustwarzen gefährlich zuspitzte, ein Auge ausgestochen. Bevor ich eine lose Haarsträhne einfing und hinter mein Ohr verfrachtete, strich ich rasch meine Kleidung glatt. Dann lächelte ich und gab ihm eine Erklärung.
»Habe gerade meinen Netzwerkanschluss geprüft. Ich scheine den Hauptserver nicht erreichen zu können. Aber der Anschluss ist wohl in Ordnung, vielleicht ist es mein USB-Port.« Das sagte ich sehr schnell und mit großer Souveränität. Mein Chef, ein erklärter Technikhasser, sah entsprechend verwirrt drein, schien aber mit meiner Erklärung zufrieden zu sein.
»Äh, Grace«, begann er erneut. »Ich weiß, dass unsere Unterredung heute für 14 Uhr angesetzt ist, aber ich habe gerade ein Zeitfenster und wollte wissen, ob Sie jetzt frei sind?« Er liebte alles Firmenspezifische, insbesondere die firmenspezifische Sprache. Warum sollte man »Ich habe Zeit« sagen, wenn man »Ich habe ein Zeitfenster« sagen kann? Warum sollte man »ab jetzt« sagen, wenn man »nach vorne gerichtet« verwenden kann? Er besaß ein ganzes Wörterbuch mit Phrasen wie diesen:
Quer denken (den Kopf benutzen)
Extern (nicht im Büro; für gewöhnlich beim Golfspielen)
Showstopper (Situation vergleichbar mit der Mückeschwimmt-im-Chardonnay-Stelle aus Alanis Morissettes Lied »Ironic« – was, um ehrlich zu sein, kein bisschen ironisch ist)
»Kein Problem.« Ich hoffte, zuversichtlich geklungen zu haben, und nahm mein Notizbuch sowie einen Stift von meinem Arbeitsplatz. Damit bewaffnete ich mich immer, selbst wenn ich nur »Drei gewinnt« mit mir selbst spielte oder Zeichnungen von meinem Chef kritzelte, auf denen er einen Ziegenkopf oder einen Rattenschwanz hatte.
Sobald ich in seinem scheunengroßen Büro war, positionierte er schnell seinen großen, fast leeren Schreibtisch wie eine Barriere zwischen sich und mich. Dann ließ er sich vorsichtig auf seinem Stuhl nieder und bildete mit seinen Fingern eine Stütze, auf der er die Speckfalten, an deren Stelle eigentlich sein Kinn sein sollte, ablegte. Er nahm einen Stapel Papier, schob ihn zusammen und legte ihn etwa drei Zentimeter von der Stelle, wo er vorher gelegen hatte, wieder ab. Daraufhin räusperte er sich und nippte Wasser aus einem Plastikbecher. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, kreuzte meine Arme über der Brust, öffnete sie wieder und legte in dem Versuch, entspannt zu wirken, meine Hände locker in den Schoß. Auf dem Schreibtisch tickte eine Quarzuhr, die die Form eines Golfballes hatte. Endlich sah er auf und lächelte mich an, was mich aus der Fassung brachte.
»Grace, Sie wissen wahrscheinlich inzwischen, das wir innerhalb der Firma bedeutende Veränderungen planen.« Ich nickte langsam mit dem Kopf und bemühte mich, nicht an meinen Fingernägeln zu kauen.
»Diese Veränderungen werden Sie unmittelbar betreffen, Grace«, fuhr er fort und schaute links neben meinen Kopf in den leeren Raum.
Großer Gott, er kann mich nicht einmal anschauen. Ich setzte mich so aufrecht hin, wie es nur ging, und nahm mir vor, nicht zu weinen, egal was geschehen würde. Was immer er heute sagen würde, ich würde mich mit dem Wissen trösten, dass ich mit einem prächtigen Haarschopf auf dem Kopf von hier ging, während er mit kaum einem einzigen Haar in seinem BMW heimfahren musste. Es mag nach einem lächerlichen Gedanken klingen, doch er spendete mir tatsächlich ein wenig Trost – sowie die Tatsache, dass ich ihm in Gedanken jede Menge Schimpfworte an den Kopf warf, während ich darauf wartete, dass er weiterredete.
»Wir wickeln weniger Schäden ab als noch vor fünf Jahren, zugleich haben wir mehr Sachbearbeiter dafür als damals. Das kann so nicht weitergehen. Ich bin sicher, Sie verstehen das.« Jetzt kam er in Fahrt; wenn er vom Geschäft sprach, befand er sich immer auf sichererem Terrain. Mein Mund war so trocken, dass es mir schwerfiel, meine Zunge vom Gaumen zu lösen. Ich beugte mich vor, und bevor mir bewusst wurde, was ich da tat, trank ich einen großen Schluck Wasser aus dem Becher, aus dem er eben getrunken hatte.
»Oh Gott, entschuldigen Sie bitte.« Ich stellte den Becher zu schnell zurück. Das Wasser schwappte hin und her, etwas davon fand seinen Weg über den Rand und auf das glänzende Mahagoni, wo eine kleine Pfütze entstand.
»Oh Gott,
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