Tag vor einem Jahr
um mich selbst wieder vom Boden aufzurappeln, wo ich in meiner Fantasie lag.
»Könnte er nicht wunderbar werden?« Caroline hatte nicht vor aufzugeben, bis ich etwas sagte. Sie wartete darauf.
Ich strengte mich an, mit meinem Kopf auf und ab zu nicken. Übersprudelnd vor Hoffnung und Zukunftsplänen ging sie endlich. Ich folgte ihr mit den Augen, bis sie sich neben Bernard auf der Couch niedergelassen hatte. Er rückte zur Seite, um ihr Platz zu machen, sagte, dass sie gut aussehen würde. Als Shane einen IRA-Witz erzählte, lachte er, obwohl der Witz nicht lustig war. Bernard war wunderbar. Daran bestand kein Zweifel.
»Grace, was machst du da drinnen?« Es war Shane, der aufgebracht nach mir rief. Wie ein Pferd, das den Hafersack umhängen hat, atmete ich durch meine Nase ein und durch meinen Mund aus. Ich war fast dreißig Jahre alt. Ich musste den Dingen ins Auge sehen. Ich musste der Tatsache ins Auge sehen, dass ich nie mehr einen Brief von Patrick erhalten würde. Ich musste drei Leuten in einem Wohnzimmer ins Auge sehen, trotz der Tatsache, dass sie mich alle nackt gesehen hatten. Trotz der Tatsache, dass Caroline vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt
war. In einen Mann, den ich … was? Den ich kannte? Zu dem ich mich hingezogen fühlte? Mit dem ich geschlafen hatte? Den ich gern hatte? Ich musste erwachsen werden. Vorsichtig begab ich mich zum Wohnzimmer und stellte das Tablett mit Tortilla-Chips und Dips auf den Boden vor der Couch. Obwohl zwischen Shane und Bernard auf der Couch eine große Lücke war, setzte ich mich auf den Boden. Ich lächelte zu ihnen hoch, als wäre alles bestens und gar nichts sonderbar.
»Hier gibt es Süßes und Gewürztes. Wir liefern für alle Geschmacksrichtungen.« Meine Stimme klang innerhalb der engen Grenzen dieses Raums seltsam normal.
»Ich hoffe, du hast auch kalorienarme, Grace.« Shane lachte und stopfte sich eine Handvoll Chips in den Mund.
Caroline langte über Bernard hinweg zu ihrem Bruder und versetzte ihm einen Hieb.
»Du bist so ein Schwachkopf, Shane. Ich verstehe nicht, wie Grace dich und deine überdimensionale Widerwärtigkeit ertragen kann.«
»Grace weiß, dass ich nur Spaß mache, oder, Baby?«, sagte Shane mit vollem Mund.
Bernard griff hinunter, nahm die Schüssel mit den Tortilla-Chips und hielt sie mir hin. »Möchtest du welche, Grace?« Ich liebte es, wie er meinen Namen aussprach, es war, als würden Fingerspitzen über meine Haut streichen. Ich sah ihn an, und er lächelte mir sanft zu. Ich nahm mir von den Chips, aß sie aber nicht.
»Na, Bernard, du steht also auf dünne Vögelchen?« Shane ließ sich ins Polster fallen und warf seine Haare aus dem Gesicht. Er sah Bernard an. Bernard sah ihn an. Ich hielt den Atem an. Caroline durchbrach die Stille.
»Verdammt nochmal, Shane, würdest du dich bitte benehmen?« Sie nahm Bernards Hand und drückte sie. »Entschuldige,
Bernard, das ist das Großer-Bruder-Syndrom. Sei ihm nicht böse. Hast du Schwestern?«
»Ja, allerdings nur eine. Sie ist verheiratet, und ich habe zwei Neffen.« Jetzt befand sich Bernard auf festerem Grund. »Fionn und Oisin. Die beiden sind großartig.« Er vergrub eine langgliedrige Hand in den Taschen, zog seinen Geldbeutel heraus, klappte ihn auf und zeigte ein abgenutztes Foto herum, auf dem zwei kleine Jungen in Badehosen am Strand zu sehen waren, die Arme umeinandergeschlungen.
»Sie sehen aus wie Zwillinge.« Ich hatte es ausgesprochen, bevor mir bewusst geworden war, was ich da gesagt hatte. Bernards Gesicht ließ nichts erkennen.
»Ja, das sagen alle. Aber sie sind elf Monate auseinander.«
»Sie sind hinreißend«, schwärmte Caroline. »Beide sehen aus wie du.« Sie sah zu Bernard. Er schaute weg, ließ seinen Geldbeutel zuschnappen und schob ihn in die Tasche zurück. Die Unterhaltung schleppte sich dahin.
»Du arbeitest also mit Grace zusammen?«, fragte Caroline. Wir sagten wie aus einem Munde »Ja«, hielten dann beide inne, um den anderen erklären zu lassen. Das Schweigen dehnte sich. Bernhard durchbrach es zuerst.
»Ich habe gerade neu in dem Unternehmen angefangen. Grace und ich sind uns vergangene Woche zum ersten Mal richtig begegnet.« Er schaute mich nicht an. Durch meinen Kopf schoss ein Bild von uns beiden in seiner Badewanne. »Wir beide werden da nie und nimmer hineinpassen.« Ich lachte ihn aus, als er es nach der ersten Runde Sex vorgeschlagen hatte. Doch er ignorierte mich und ließ warmes Wasser ein, wobei er ein paar
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