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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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auf die Räder schwingen, um heimzufahren, kommen die andern aus den Fabriken, stoppen am Randstein, drücken ihre Nasen an den Drahtzaun. Das Ganze hat etwas von öffentlicher Bescherung. Die Gärtner begießen die frischen Blumen.

Story
    Jemand erzählt eine Geschichte, die sich in der Nähe von Stuttgart ereignet haben soll: – In einem kleinen Bauernhof lebte eine Frau, deren Mann, damals ein junger Soldat, während des ersten Weltkrieges in russische Gefangenschaft kam. Da sie nach vielen Jahren immer noch mit der Rückkehr ihres Mannes rechnete, galt die Frau als verrückt; die Nachbarn erzählten sich, daß sie sein Bett immer wieder mit frischer Wäsche bezog, und obschon sie durchaus kein Zeichen von ihm hatte, war sie von der Überzeugung, daß er immer noch lebte, nicht abzubringen, zehnJahre nach dem ersten Weltkrieg, zwanzig Jahre. Dann kam der zweite Weltkrieg. Die Frau überlebte ihn; in allen Dingen, die nicht ihren verschollenen Mann betrafen, wirkte sie durchaus vernünftig. An ihrem stillen, unausgesprochenen, nur durch ihr Verhalten bezeugten Wahn, daß ihr Mann eines schönen Tages zurückkehren würde, änderte auch der zweite Weltkrieg nichts. Wieder gab es Hunderttausende von Frauen, die auf ihre Männer aus Rußland warteten, gläubig oder ungläubig. Unter den ersten, die wirklich wiederkehrten, war ein sehr alter Mann, den die Nachbarn, als er sich bei ihnen meldete, tatsächlich als den Mann jener Verrückten erkannten; er erkundigte sich, ob seine Frau noch lebte, und erfuhr, daß sie nie an seinen Tod geglaubt hätte. Erst nach dieser Kundschaft wagte er es, sich dem Hause zu nähern. Die Nachbarn warteten bis zum anderen Morgen, ehe sie hinübergingen, um zu sehen und zu hören, wie die Frau mit dem unwahrscheinlichen Ereignis fertig würde. Man traf sie gänzlich in Ruhe, unverändert, wobei sich zeigte, daß sie von dem Mann, der gestern gekommen war, überhaupt nichts wußte. Sie glaubte ihren Nachbarn nicht ein Wort, bis die Nachforschungen ergaben, daß die Nachbarn sie nicht zum Narren hielten und daß sie, die achtundzwanzig Jahre lang an seine Rückkehr geglaubt, sich nicht verstiegen hatte; man fand seine Leiche in der Jauchegrube, die sich beim hinteren Eingang befindet.

Letzigraben
    Heute, Samstag achtzehnter Juni, ist die Anlage eröffnet worden. Sonniges Wetter und viel Volk. Sie schwimmen, springen von den Türmen. Die Rasen sind voll von Menschen, halb nackt und halb bunt, und es ist etwas wie ein wirkliches Fest; ein paar alte Leutchen, die natürlich nicht baden, bewundern die vielen Blumen, und der Pavillon mit den blauweißen Stores, der auf dem Galgenhügel steht, hat stürmischen Betrieb. Noch wird alles, bevor es benutzt wird, wie ein neues Spielzeug betrachtet; nur die Kinder planschen drauflos, als wäre es immer so gewesen.Die Anlage, erbaut von der Stadt Zürich, kostet viereinhalb Millionen Franken. Sie faßt viertausend und zweihundert Menschen, enthält drei große Wasserbecken, Schwimmer und Nichtschwimmer und Sport, das Wasser wird durch einen Filter ununterbrochen gereinigt. Die Anlage, die zweite dieser Art, die Zürich bisher erstellt hat, befindet sich in einem Stadtteil, der hauptsächlich von Arbeitern und Angestellten bewohnt ist. Die Bauzeit dauerte zwei Jahre, meine Arbeit vier Jahre.

Café Odeon
    Ein Freund, ein verehrter, schreibt:
    »Ich kann nicht verschweigen, daß ich dieses gewaltsame Offenhalten von Wunden, zu dem Du Dich wie so viele andere offenbar verpflichtet fühlst, für ein eigentliches Unglück halte.«
    Ich halte für ein eigentliches Unglück: das Verbinden von Wunden, die noch voll Eiter sind – und sie sind voll Eiter – das Vergessen der Dinge, die nicht durchschaut, nicht begriffen, nicht überwunden und daher nicht vergangen sind.
    Aber sind auf meiner Seite so viele?

Unterwegs
    Die Affen im Zoo – Eindruck: die hocken gerade an der Grenze, wo die Langeweile beginnt. Plötzlich halten sie inne, blicken in die Luft, einen Augenblick lang haben sie die ganze Melancholie, die den Menschen auszeichnet; nur können die Affen nicht ins Konzert, ins Theater, sie können noch keine Kunst daraus machen, sie lausen sich, zur Wissenschaft fehlt ihnen die Vernunft, sie spielen mit Nüssen oder mit ihrem Geschlecht, weiter reicht es noch nicht. Aber sie spielen bereits! Die Molche spielen nicht; die liegen auf dem Bauch, atmen und verdauen; die haben von Langeweile noch nicht einmal eine Ahnung. Ein Mensch von Geist, sagt man hin

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