Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
und wieder, könne sich nicht langweilen.Geist ist die Voraussetzung der Langeweile! Neulich habe ich wieder von den griechischen Göttern gelesen; wie die sich langweilen! Sie stiften Mord und Krieg, nur damit sie sich unterhalten in ihrer Unsterblichkeit … Die Götter, von keinem Ende bedroht, und die Molche, die auf dem Bauch liegen und atmen, ich möchte weder mit den Molchen noch mit den Göttern tauschen. Das Bewußtsein unsrer Sterblichkeit ist ein köstliches Geschenk, nicht die Sterblichkeit allein, die wir mit den Molchen teilen, sondern unser Bewußtsein davon; das macht unser Dasein erst menschlich, macht es zum Abenteuer und bewahrt uns vor der vollkommenen Langeweile der Götter … Heute fragt Ursel, unsere Sechsjährige, mitten aus dem Spiel heraus, ob ich gerne sterbe.
»Alle Leute müssen sterben«, sage ich hinter meiner Zeitung: »Aber gern stirbt niemand.«
Sie besinnt sich.
»Ich sterbe gerne!«
»Jetzt?« sage ich: »Wirklich?«
»Jetzt nicht, nein, jetzt nicht –.«
Ich lasse die Zeitung etwas sinken, um sie zu sehen, sie sitzt am Tisch, mischt Wasserfarben.
»Aber später«, sagt sie und malt mit stiller Lust: »später sterbe ich gerne.«
Der Harlekin, Entwurf zu einem Film
Sonntagabend, Kirmes in einer kleineren Stadt, zu sehen ist der dickste Mann der Welt, widerlich, aber jedesmal, wenn der Ausrufer an seiner schrillen Glocke zieht, strömen die Leute hinein. Und dann sitzt er also auf einer ebenso winzigen wie schäbigen Bühne, verkleidet als chinesischer Mandarin, ein zuckerkranker Mann aus lauter Fett und Falten, die Augen verschwinden fast unter den Wulsten, aber er bewegt sich wirklich, er lächelt, er lebt. Das Publikum tuschelt. Damen mit zartem Gemüt halten ihre Hand vors Gesicht. Der Ausrufer, mit einem schlankenStäblein auf den Bauch zeigend, der wie ein Ballon aussieht, gibt einen kurzen Lebenslauf:
»Meine Damen und Herren«, sagt er: »das ist der Mann, der sich glücklich preisen würde, wenn er arbeiten könnte, aber dazu ist er nicht imstande –.«
Draußen dröhnt es von Karussells, es bimmelt, wirbelt, dreht sich mit bunten Glühbirnen und fliegenden Röcken, es leiert von allen Seiten, einer schlägt den Herkules, und immer wieder hört man das silberne Glöcklein, wenn er es geschafft hat, dazu eine Arie aus dem Rigoletto, Schreie auf der Achterbahn, Schüsse in einer Schießbude … Gottlieb Knoll, der Held unsrer Geschichte, bleibt stehen und steckt sich eine Zigarette an.
»Meine Herrschaften«, ruft es von der andern Seite: »wer wagt es? Die Gespensterbahn! Nur für starke Nerven! Dreißig Groschen, wir zahlen den Preis sofort zurück, wenn Ihnen die Haare nicht zu Berge stehen – Die Gespensterbahn, das Erlebnis der Woche!«
Ein Pärchen wagt es.
»Immer hereinspaziert!« ruft es abermals von dieser Seite: »Hier sehen Sie das Wunder aller Wunder, hier sehen Sie die pure Wahrheit: Tschau Hing, der chinesische Mandarin, der dickste Mann der Welt, der Mensch, der nicht arbeitet – Tschau Hing!«
Das hat Gottlieb schon gesehen, er schlendert weiter, viel Geld hat er nicht mehr, aber etwas will er sich noch leisten, bevor es Montag ist, bevor er wieder an seinem Pult hockt. Die Dame ohne Unterleib? Einen Augenblick bleibt er stehen, kann aber nicht einsehen, welchen Reiz das haben soll, und geht weiter – vorbei an den heißen Würstchen, an den glitzernden Buden, die mehr versprechen, als das Leben halten kann … Gottlieb zieht es vor, an eine jener geheimnislos offenen Buden zu treten, wo man Bälle werfen kann; ganz allein. Ein Mädchen gibt ihm die Bälle aus Stoff, gefüllt mit Sägemehl. Gottlieb nimmt sie in die Hand, dann wirft er auf die Puppen, die er teilweise trifft; aber es genügt nicht für eine Brosche. Also weitergeworfen! Eine zweite, eine dritte, eine vierte Serie; Gottlieb schmettert, daß die Bude zittert, und indem er mit dem Arme ausholt, entdeckt ererst die Menge der Gaffer, die sich bereits versammelt haben, ein Umstand, der ihm jede Kapitulation unmöglich macht. Nach der elften Serie, es steht nur noch eine einzige Puppe, ist es bereits eine Volksfreude, Gottlieb schwitzt wie ein Held, wortlos, das Mädchen gibt ihm die Bälle nur mit Zögern, erinnert ihn an die Kosten. Aber für Gottlieb, das kann sie nicht verstehen, geht es jetzt ums Ganze; die letzte Puppe, der Teufel soll es holen, erinnert ihn immer mehr an seinen Direktor. Eine Puppe mit Monokel und Zylinder. Schon dreimal hat er sie getroffen, aber sie hat
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