Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
sich immer wieder aufgerichtet. Nach der siebzehnten Serie, als sie noch immer steht, zieht Gottlieb nur die Jacke aus; Kapitulation kommt nicht in Frage, und wenn er seine Uhr versetzen müßte – der Kerl muß herunter!…
Zur gleichen Zeit, kaum dreißig Schritte entfernt, ereignet sich übrigens ein ähnlicher, aber wirklicher Streit – hinter einer jener Buden, deren Vorderseite so glitzernd ist … Es handelt sich um einen Ringer, der streikt, um einen riesenhaften Kerl in gestreiftem Trikot, der imstande wäre, beide zusammen in die Luft zu halten, links den Gendarm und rechts den Budenbesitzer. Er tut es nicht; er sitzt auf einer Kiste und streikt. Das ist alles.
»Vertrag ist Vertrag.«
Der Ringer spuckt auf den Boden.
»Wenn Sie nicht sofort hineinkommen und weiterarbeiten«, sagt der etwas schmächtige und etwas zitternde Budenbesitzer, »lasse ich Sie auf der Stelle verhaften. Auf der Stelle. Wie stehe ich da? Die Bude voll Zuschauer, das Geld in der Kasse –«
Der Ringer läßt sich nicht rühren.
»Luft schnappen!« wiederholt der unglückliche Budenbesitzer: »Sie reden ja wie ein Kind. Und das an einem Sonntagabend, wo das große Geschäft ist! Wenn das jetzt der Dank ist – oder habe ich Sie nicht immer wie einen Menschen behandelt? Wie oft habe ich gesagt: Meier, erkälten Sie sich nicht! Und wie oft, wenn Sie einmal Pech hatten, wie oft habe ich Sie mit Verbandstoff beschenkt? Bin ich ein Unmensch? Bin ich ein Ausbeuter? Vertrag ist Vertrag, das müssen Sie schon einsehen, ich habe Ihre beispielloseKraft erkannt, als Sie noch ein armer Schlucker waren, ein Arbeitsloser. Wer hat die große Reklame gemacht für Sie? Und was habe ich alles getan für Ihre beispiellose Kraft? Wer gibt Ihnen eine solche Hühnersuppe? Sagen Sie selber, mein Freund, wer hat Sie besser behandelt als ich? Wenn Sie mich nicht hätten – ich lasse Sie ringen in meiner Bude, Abend für Abend, und das ist der Dank: einfach davonlaufen und streiken, Luft schnappen …«
»Was soll ich anderes tun!«
»Meier –«
»Herrgott nochmal«, sagt der Ringer nicht ohne einen Unterton von seelenvoller Zartheit, »ich kann mich nicht anders wehren gegen Ihresgleichen. Ich bin ein Ringer; wenn ich mich anders wehre, sind Sie tot –.«
Gottlieb, der Ballwerfer, hat dann doch kapituliert. Einfach wegen des Geldes; was er noch hat, reicht höchstens für ein Bier. Das Mädchen hat ihm einen Blick herzlicher Teilnahme geschenkt, die Gaffer haben sich zerstreut, das Tingeltangel geht weiter, es bimmelt, es wirbelt, die Ausrufer rufen ihre großen Versprechen, es leiert von allen Seiten, einer schlägt den Herkules, und immer wieder hört man das silberne Glöcklein, wenn er es geschafft hat, dazu die immer gleiche Arie aus dem Rigoletto, Frauen schreien auf der Achterbahn, Schüsse in der Schießbude … Gottlieb setzt sich und bestellt das letzte Bier. Morgen ist Montag. Dagegen ist nichts zu machen. Übrigens setzt er sich abseits, nicht zu den Bekannten, die er wohl bemerkt; er hat jetzt gar keine Lust, mit einem vernünftigen Menschen zu reden, und lieber setzt er sich an einen leeren Tisch oder aber, da es einen solchen nicht gibt, zu dem fremden Ringer.
»Wenn es gestattet ist«, sagt Gottlieb.
Und schon kommt Knicks, der Kellner:
»Was darf ich bringen?«
»Bier.«
»Warum so finster, Herr Knoll?«
Keine Antwort. Und auch als das Bier kommt, kein Ton. Dasagt der Harlekin, der plötzlich an ihrem Tischlein sitzt, der Teufel weiß woher, ein Harlekin, wie er im Buche steht; er sagt:
»Prost!«
»Danke«, sagt Gottlieb.
»Sie haben Durst«, lächelt der Harlekin: »Sie haben sich wacker angestrengt –.«
Gottlieb leckt sich den Bierschaum von der Oberlippe, er schämt sich ein wenig, der Harlekin hat offenbar auch zugeschaut und gesehen, wie Gottlieb sich gegen eine Puppe ereifert hat.
»Ich kann das verstehen«, sagt der Harlekin: »Die ganze Woche lang hockt man an seinem Pult, blickt auf den Kalender, jeden Morgen rupft man einen Zettel ab, damit es wieder Sonntag wird, und dann ist er da, der Sonntag …«
Gottlieb will nicht davon reden.
»Sie sind wohl ein Künstler?« fragt er, um abzulenken: »Ich bin in allen Buden gewesen, aber Sie habe ich nirgends gesehen.«
»Ich bin Zauberer.«
Gottlieb leert das Glas.
»Zauberer?« sagt er mit einem gewissen Unbehagen, das halb aus Hochachtung, halb aus Mißtrauen besteht: »Was zaubern Sie denn, wenn man fragen darf?«
»Was die Herrschaften
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