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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Welt, der noch nie in seinem Leben hat arbeiten müssen, und Gottlieb sein Erbe, Gottlieb Knoll, wie er sich dann erheben und sagen würde: Hände weg, lassen Sie den armen Ringer bloß in Ruhe oder Sie haben es mit mir zu tun, mit Gottlieb Knoll! Und kaum würden sie den Namen hören, wären ihre Gesichter wie verwandelt, etwas verlegen, denn Gesetz ist Gesetz, und vor dem Gesetz sind alle gleich. Und Gottlieb würde sagen: Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, die Behörde kennt mich, ich bin der beste Steuerzahler, man wird sichhüten, mich vor den Kopf zu stoßen wegen einer Lappalie. Und da die Gendarmen immer noch nicht verschwinden, sondern sich verlegen an ihrem eignen Gürtel halten, würde Gottlieb fortfahren und sagen: Vor dem Gesetz sind alle gleich, versteht sich, aber machen Sie sich wirklich keine Sorge, die Kaution wird morgen bezahlt, oder wenn Sie wollen, gerade jetzt! sagt Gottlieb, greift in die Tasche, wo er die Noten hat – und so … Wunderbar wäre es schon, mächtig zu sein, seinen Freunden helfen zu können und selber nicht aufstehen zu müssen, wenn es Montag ist, wenn der Wecker rasselt, sondern liegenzubleiben, im Bett zu frühstücken und in der Zeitung zu lesen: Gottlieb Knoll stiftet ein Heim für arbeitslose Ringer und für alle andern, denen es verleidet ist. Wunderbar wäre es schon, nicht auszudenken –
    »Wenn es bloß ohne töten ginge!«
    Der Harlekin lacht über ihn:
    »Was heißt töten?«
    »Was es halt heißt«, sagt Gottlieb.
    »Eines Tages stirbt er sowieso, der Mandarin. Und warum soll man mit diesen Wichten zimperlich sein? Wenn Sie ihn sehen würden –«
    »Dann könnt ich's schon gar nicht.«
    »Sie müssen ihn auch nicht sehen«, verbessert sich der Harlekin: »Das verstehe ich. Drum ist es ja ein Mandarin in China. Je ferner, um so leichter. Das ist der Segen unserer Technik, beiläufig bemerkt; so von Angesicht zu Angesicht, das gebe ich zu, da sind wir alle etwas zimperlich. Wer ist schon imstande, mit dem Küchenmesser auf seine Schwiegermutter loszugehen? Ganz wenige. Oder siebenhundert Menschen eigenhändig zu ersäufen, Menschen wie an dieser Kirmes, Frauen, Männer, Kinder, wem dürfte man das ohne weiteres zutrauen? Eigenhändig, verstehen Sie: wenn man jeden einzelnen nehmen müßte, unser Blumenkind zum Beispiel, und man müßte ihm den Kopf in die Badewanne halten, bis es keine Bläschen mehr gibt, und das siebenhundert Mal. Wer schafft das? Ein Torpedo, das ist doch etwas ganz anderes. Ein einziges Torpedo, ein Blick auf den Winkelmesser, ein Blick auf die Uhr, ein Druck auf den Knopf; das kannjeder, und wären seine Augen noch so blau. Was ist dabei! Sehen Sie sich einmal die Jungens an, die die Bomben lösen; kein Makel im Gesicht. Was heißt töten? Natürlich an Ort und Stelle – aber dazu haben wir ja die Technik, mein Freund, oder wie ich zu sagen pflege: man muß grundsätzlich denken, und das gelingt den allermeisten nur dann, wenn sie ihre Tat nicht mit Augen sehen. An Ort und Stelle erscheint es immer wie ein Mord, mag sein, aber wozu haben wir das Ferndenken? – Sie müssen ihn nicht sehen, das ist ja der Witz, drum ist es nicht Ihr Direktor, sondern ein Mandarin in China.«
    »Das schon«, sagt Gottlieb.
    »Ich will Sie nicht überreden!« lacht der Geschminkte: »Er selber ist nicht so zimperlich wie Sie, sonst wäre er nicht so reich. Hunderttausend Kulis schuften für ihn, treten die Wassermühlen, damit das Reisfeld seine Zinsen trägt, Tag für Tag, Woche um Woche, ihr ganzes Leben lang, Montag um Montag. Meinen Sie, der geht hin und sieht es sich mit eigenen Augen an? Er sitzt auf seiner Yacht, Tschau Hing, der selber nie geschuftet hat, da sitzt er und rülpst und nährt sich von der Arbeit der andern –.«
    Der Ringer nickt:
    »Jaja, so ist das!«
    Gottlieb schweigt etwas verlegen. Auch die andern nicken, nicht nur die alte Bettlerin und der Kellner und das Blumenkind, sogar der Rechtsanwalt, Doktor Knacks, der in einer Welt, wo es mit rechten Dingen zuginge, nie so verlottert wäre und so versoffen.
    »So ist das«, sagt Knacks mit dem ganzen Gewicht, das die Aussage eines Akademikers hat: »Und warum ist es so?«
    »Warum?« fragt Gottlieb.
    »Die Juden –«
    Gottlieb hört nicht weiter zu, sondern betrachtet das leere Papier, übrigens ein ganz gewöhnliches Papier. Eine Unterschrift, denkt er, und ich bin der mächtigste Mann auf dem Platz! Alle reden ihm zu. Nur Schopf, der Bäckermeister, macht ein verächtliches Gesicht;

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