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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Arbeitnehmer, keiner würde auch nur wagen, sie unterzuhaken.
    »So was!« sagt das Blumenkind.
    Und alle bleiben stehen; aufrecht.
    »Ich komme gleich«, sagt Jenny. Sie will nur noch die Lippen malen – ein Schrei, so, als wäre sie verbrüht worden, und Jenny, die Dame, liegt auf dem Boden. Gottlieb eilt hinzu, den Anblick ahnend, der die arme Jenny in solche Ohnmacht geworfen hat; sogleich, ohne selber einen Blick hineinzuwerfen, reißt er den Vorhang vor, damit niemand in die Bettkammer sieht, wendet sich, starrt seine Gäste an, blaß wie aus Wachs:
    »Was starrt ihr denn so?«
    Unterdessen wird das Diner aufgetragen …
    »Warum setzt ihr euch nicht?«
    Man setzt sich, alle außer Zapf.
    »Jenny wird sich gleich erholen –.«
    Gottlieb ist seltsam, duldet nicht, daß man sich um die arme Jenny kümmert; wie ein Tollwütiger springt er empor, als Zapf sich nur dem Vorhang nähert, reißt ihn zurück, daß er taumelt, und steht vor der Bettkammer, die weiße Serviette in der Faust.
    »Was soll das heißen?« sagt er mit einer nie gehörten Stimme: »Ich habe euch zum Essen eingeladen, nicht um mein Haus zudurchsuchen. Bin ich ein Verbrecher? – Sagen Sie, was Sie denken, Doktor, sagen Sie es rundheraus!«
    »Ich? Was?«
    »Daß ich ein – Mörder bin …«
    »Wer sagt das?«
    »Keiner! Keiner! Aber jeder denkt es. Sehe ich doch euren Augen an –«
    »Unseren Augen?«
    »Heuchler!«
    Sagt es und wirft die Serviette hin.
    »Gottlieb, Sie tun uns Unrecht. –«
    »Heuchler«, wiederholte er: »Hosenscheißer – warum eßt ihr denn nicht? Ihr alle. Auch du, Schopf! Warum rührt ihr euer Mark im Teller herum, und keiner nimmt einen Bissen? Ist es euch zu heiß, was? Oder ist es euch nicht gut genug, was? Oder – glaubt ihr vielleicht, hinter dem Vorhang sitzt eine Leiche –.«
    Totenstille.
    »Herrgott im Himmel«, sagt er mit grimmigem Vorwurf: »wenn das eure ganze Freundschaft ist!«
    »Gottlieb –«
    »Was gafft ihr denn alle nach dem Vorhang?«
    Schopf nimmt den Löffel.
    »Gottlieb hat recht«, sagt er zu den andern, die wie versteinert sind: »wir wollen nicht den Kopf verlieren.«
    Der Bäckermeister, besonnen wie immer, will das gute Beispiel geben, indem er den Löffel in die Suppe taucht und mit dem Mahl beginnt; doch er hat den Löffel noch nicht im Mund, als Gottlieb ihn an der Joppe packt:
    »Wie meinst du das? Wir wollen nicht den Kopf verlieren. Wie meinst du das? Hm? Heißt das, daß ich es auf euren Kopf abgesehen habe – oder was?«
    Gottlieb ist verwirrt, sie verstehen noch gar nicht, was er meint, blicken auf das Mark im Teller und wissen wirklich keine Antwort, nicht einmal ein Verhalten – bis Zapf, der unterdessen an den Vorhang geschlichen ist, einen leisen Schrei tut:
    »Verflucht.«
    Alle blicken auf ihn.
    »Es stimmt«, sagt er tonlos.
    »Was?«
    »Ich hab sie gesehen.«
    »Was?« fragen sie alle.
    »Eine Leiche.«
    Hiemit, scheint es, ist das festliche Essen schon zu Ende, jedenfalls haben sich alle erhoben; umsonst bettelt Gottlieb:
    »Ihr wollt mich verlassen?«
    Es ist schließlich Montag, Werktag, jeder ist gekommen, wie man bei einem Hilferuf kommt, aber so viel Zeit haben sie natürlich nicht, das muß Gottlieb schon verstehen; der Bäckermeister hat noch die Wähen im Ofen, und auf die Lehrlinge ist ja kein Verlaß. Auch Knacks, der Rechtsanwalt, hat noch eine Verabredung im Kaffeehaus. Und eine Tankstelle, wo niemand bedient, wie soll man das verantworten? Umsonst spricht Gottlieb mit jedem einzelnen, um ihn zu überzeugen, daß ihnen die Leiche nichts antut; unterdessen hauen alle andern ab – man hört seine Stimme draußen in der Halle:
    »Damals auf der Kirmes, ihr Hunde, ihr verdammten, wer hat gesagt, ich soll unterschreiben? Kein langes Geflunker, der Mandarin soll sterben – damals auf der Kirmes – Für wen habe ich es denn getan? – Ihr Hunde, ihr verdammten, ihr elenden …«
     
    Ganz allein, wie er sich im ersten Augenblick vorkommt, ist unser Gottlieb nicht, als er in den verlassenen Raum zurückwankt. Der Harlekin ist auch noch da! Der hockt halb auf dem gedeckten Tisch, einen Fuß auf dem nächsten Stuhl, einen sehr absonderlichen Fuß, wenn man ihn so genauer sieht, und frißt Toast mit Mark; indem er Salz darauf streut, lächelt er:
    »So ist das immer mit den kleinen Leuten! Kaum wissen sie, daß eine Leiche hinter dem Vorhang sitzt, schon mundet ihnen das beste Essen nicht mehr – und nachher klagen sie darüber, daß sie ihr Leben lang

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