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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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wollen –«
    »Gerne, ja, sehr gerne.«
    »Bring einen Teller!«
    Das Kind geht hinaus, und man weist dem Fremden eine kleine Bank, wo er sich setzen kann. Er tut es. Seinen Hut legt er weg, aber die lederne Mappe behält er auf den Knien, als wären wichtige Akten darin, die man um nichts in der Welt verlieren darf, und der Vater schöpft sich selber noch einmal Suppe; wieder löffelt er eine ganze Weile, bevor er sagt:
    »Sie sind schon lang in der Gegend?«
    »Ich habe Sie gesehen, ja, droben im Holz, wo sie die Föhren fällen –.« 
    Schweigen.
    »Eine einsame Gegend ist das.«
    »Ja«, sagt die Mutter: »da hat sich schon mancher verirrt! Besonders im Winter!«
    »Ich glaubs.«
    »Da können Sie noch ordentlich gehen, wenn sie ins Dorf wollen. Aber jetzt, wo es gepfadet ist – ich meine, Sie verstehen mich recht, wir schicken Sie nicht fort! Ich weiß ja nicht, ob Sie wirklich ins Dorf wollen, aber zu uns selber, wissen Sie, zu uns ist noch keiner gekommen –.«
    »Nein?«
    »Was soll er hier?«
    Der Vater nickt:
    »Da gibt es nichts zu holen! meint meine Frau. Eine Säge, ein altes Haus, das zwei Monate im Winter überhaupt keine Sonne hat, Kaninchen und Hühner, ja, das schon – eine Küche, zwei Kammern im Estrich, das ist alles.«
    »Es ist keine Schande«, sagt die Mutter: »wenn man arm ist.«
    »Einmal ist einer gekommen –«
    Das ist eine alte Geschichte, und die Mutter will nicht, daß der Vater davon erzählt; überhaupt ärgert sie die Art, wie sich der Vater gegenüber dem Fremden benimmt, und sie macht sich selber um so höflicher:
    »Es tut mir leid, daß es so lange geht mit dem Teller –.«
    »Ich bin froh, daß ich an der Wärme bin.«
    »Der andere Teller, müssen Sie wissen, wir brauchen nie einenvierten Teller, und drum haben wir ihn manchmal bei den Hühnern, da muß das Kind ihn erst waschen, aber er wird gleich kommen! Ich stelle die Suppe nochmals auf den Herd –«
    Sie tut es.
    »Einmal ist einer gekommen«, sagt der Vater: »Das war vor neunzehn Jahren, als ich im Krieg war. Der hat meinen Vater erschlagen und meine Mutter dazu, ein Wahnsinniger; keinen Groschen hat er genommen! Mit einer Axt, wissen Sie. Mein Vater war Holzfäller, die Säge kam erst später hinzu.«
    »Warum erzählst du das wieder!?«
    »Es geschieht hier nicht viel – sonst.«
    Der Fremde:
    »Fürchten Sie nicht, daß ich ein Mörder sei.«
    »Ich fürchte mich nie.«
    »Ich wollte, ich dürfte das gleiche sagen …«
    In diesem Augenblick kommt endlich das Kind, das den gewaschenen Teller bringt; die Mutter nimmt ihn, wischt ihn nochmals mit dem Ärmel und füllt ihn mit Suppe, fragt ihn, ob er auch Dickes wolle, es wären zwar nur Kartoffeln.
    »Es ist mir nicht recht«, sagt der Fremde: »daß ich einfach komme, aber ich habe wirklich Hunger.«
    »Dann essen Sie!«
    »Ja«, sagt er mit dem Teller in der Hand: »es ist nicht meine Art – sonst …«
    Eine Weile ist es, als besinne er sich darauf, was eigentlich seine Art gewesen sei, sonst – er löffelt die Suppe, bevor er sich auf das Gesuchte erinnert, und das Kind schneidet ihm Brot, das er mit Dank entgegennimmt; als er weiterlöffelt, sagt das Kind:
    »Ich bin froh, daß Sie endlich gekommen sind.«
    Er schaut sie an –
    »Erschrecken Sie nicht!« sagt das Kind, »man hört uns nicht. Sie sind der einzige in dieser Küche, der hören kann, was ich denke. Sagen Sie kein Wort zu mir! Ich bin froh, daß Sie endlich gekommen sind, bevor ich alt bin. Sagen Sie kein Wort zu mir! Aber morgen, wenn alles wieder von vorne beginnt, nehmen Sie mich fort von hier.«

Zweite Szene
    In einem Kerker, und es ist am selben Tag, steht der Mörder, der auf die letzte Verhandlung des Gerichtes wartet; auf seiner Pritsche sitzt der Anwalt, Doktor Hahn, während er selber durch das kleine Gitterfenster schaut, die Hände auf dem Rücken.
    »Lebenslänglich?«
    »Wenn Sie keine Antwort geben auf meine Frage, wie soll ich Ihnen helfen? Ich frage nicht als Oberrichter, vergessen Sie das nicht: ich bin Ihr Anwalt. Ich tue, was ich kann.«
    »Also lebenslänglich –.«
    Der Mörder geht dreimal an der grauen Mauer hin und her, bis er wieder vor dem Gitterfenster stehen bleibt; er raucht eine Zigarette, die der Anwalt ihm gab, bläst den Rauch von sich.
    »Was haben Sie gedacht oder empfunden, als Sie damals, ich spreche vom vierten Februar des vergangenen Jahres, auf dem Abort saßen?«
    »Schnee …«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Schnee! sage ich. Nichts als Schnee,

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