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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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meine ich, von Morgen bis Abend …«
    »Wir müssen bei der Sache bleiben. In einer Stunde beginnt unsere letzte Sitzung, unsere Zeit ist kostbar.«
    »Das ist sie, lieber Doktor!«
    Doktor Hahn schaut ihn an, sieht aber nur seinen Hinterkopf, der so ist wie die meisten Hinterköpfe, so daß man kein Gesicht dazu erraten kann. Auch das Gesicht unseres Oberrichters, denkt Doktor Hahn, könnte zu diesem Hinterkopf gehören. Zugleich erinnert er sich, daß sie bei der Sache bleiben müssen, und schaut auf seine Akten, beherrscht wie immer.
    »Warum haben Sie an jenem Abend, als Sie von dem besagten Ort kamen, die Axt in die Hand genommen?«
    »Das fragen Sie seit sieben Wochen –.«
    »Erinnern Sie sich!«
    »Das ist leicht befohlen, lieber Doktor –«
    »Was dachten Sie? Was empfanden Sie? Sie gingen auf den Abort, heißt es –«
    »Wie manchmal noch?«
    »Ich stütze mich auf die Akten.«
    »Mit der Zeit, fürchte ich, ist auch das nicht mehr wahr –«
    »Wieso?«
    »Wenn es wahr ist, was in Ihren sauberen Akten steht, man könnte meinen, ich verbrachte mein ganzes Leben auf dem besagten Ort.«
    »Was in den Akten steht, sind Ihre eignen Aussagen, nichts mehr und nichts weniger.«
    »Ich weiß.«
    »Also?«
    »Mag sein«, sagt der Mörder nach einigem Besinnen, »daß es wahr ist, gewissermaßen –«
    »Was?«
    »Daß ich mein Leben so verbrachte, gewissermaßen … Ich erinnere mich, manchmal hatte ich durchaus dieses Gefühl. Auf der Bank, wo ich arbeitete –«
    »Daß Sie stets die Arbeitszeit dafür verwendet haben, das sagten Sie schon. Das ist ein Witz, worüber die Geschworenen lachten, und es ist gut, wenn man die Geschworenen zum Lachen bringt; aber wesentlich ist das nicht. Das machen fast alle Angestellten.«
    »Dieses Gefühl hatte ich auch, lieber Doktor, daß es nicht wesentlich ist … auch wenn ich vor dem Spiegel stand und mich schabte, zu Hause, wenn ich die Schuhe nestelte, jeden Morgen, wenn ich an meinen Schalter trat, jeden Morgen, und so –«
    »Was wollen Sie sagen?«
    »Im Frühjahr wäre ich Prokurist geworden.«
    »Das wissen wir …«
    »Auch das, Sie haben recht, hätte nichts verändert. Es fällt mir so ein; die Prokuristen haben einen eigenen Abort – und überhaupt, wenn ich an die Bank denke, die ganze Organisation war musterhaft … der Hauswart hatte einen Kalender, wo er eintrug,wann er die Flügeltüren zum letztenmal ölte. Ich habe diesen Kalender mit eignen Augen gesehen. Da gab es keine girrende Türe und nichts. Das muß man sagen.«
    Doktor Hahn beißt seine Lippe, wie er es öfter tut, wenn er zeigt, daß er sich beherrscht; er verliert nie seinen Ton:
    »Um auf unsere Frage zurückzukommen: –«
    »Ja!« sagt der Mörder: »Was ist wesentlich?«
    »An dem betreffenden Tag gingen Sie in eine Bar, die Sie nach einer halben Stunde wieder verließen. Sie gingen zu Fuß nach Hause, nüchtern, um neun Uhr gingen Sie schlafen –«
    »Manchmal war man sehr müde.«
    »Nach einigen Träumen, deren Sie sich nicht mehr erinnern können, erwachten Sie und kleideten sich abermals an, Sie gingen abermals in die Stadt, abermals zu Fuß, und meldeten sich auf der Bank. Als der Hauswart öffnete, erklärten Sie ihm, Sie müßten auf den Abort –«
    »Ja, darum kommen wir nicht herum.«
    »Weiter …!«
    »Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich mehr vom Geld verstanden hätte.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ich verstehe nichts vom Geld«, sagt der Mörder: »Millionen gingen durch meine Hände, hinein und hinaus, und es hat immer gestimmt, aber im Grunde, wissen Sie, verstand ich überhaupt nichts davon.«
    Doktor Hahn versteht.
    »Sie meinen«, sagt er langsamer: »wenn Sie gerissener gewesen wären, wenn Sie es selber weiter gebracht und mehr verdient hätten und so, dann wäre es nicht dazu gekommen?«
    Der Mörder schweigt.
    »Das ist ein heikles Argument! Wir dürfen nie vergessen: es ging Ihnen, und darauf fußt ja unsere ganze Verteidigung, nicht um das Geld –«
    »Nein.«
    »Daran müssen wir festhalten. Das sagte ich vom ersten Tage an. Sie hätten eine Million unterschlagen können, ohne daß Sieeinen alten Abwart mit der Axt umbringen mußten. Es ist ein Mord, aber kein Raubmord, und das setze ich durch!«
    Pause.
    »Ich meine es auch nicht so, lieber Doktor …«
    »Sondern?«
    »Wenn ich das Geld verstanden hätte, meine ich, vielleicht hätte ich mich nicht so gelangweilt. Verstehen Sie, wenn man jeden Morgen hinter einem solchen Schalter steht

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