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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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will mit ihrem Aufruf über die Rampe: die Selbstaufgabe der Dichtung, die ihre Ohnmacht erkennt, ihre Ohnmacht zeigt, hat etwas von einem letzten Alarm, der ihr möglich ist –.

Aus der Zeitung
    Ein Mann, der als braver und getreuer Kassier schon zwei Drittel seines Daseins erledigt hat, erwacht in der Nacht, weil ein Bedürfnis ihn weckt; auf dem Rückweg erblickt er eine Axt, die aus einer Ecke blinkt, und erschlägt seine gesamte Familie, inbegriffen Großeltern und Enkel; einen Grund für seine ungeheuerliche Tat, heißt es, könne der Täter nicht angeben; eine Unterschlagung liege nicht vor –.
    »Vielleicht war er ein Trinker.«
    »Vielleicht …«
    »Oder ist es doch eine Unterschlagung, der man erst später einmal auf die Spur kommt.«
    »Hoffen wir es …«
    Unser Bedürfnis nach dem Grund: als Versicherung, daß einesolche Verwirrung, die das Unversicherte menschlichen Wesens offenbart, unsereinen niemals heimsuchen kann –
    Warum reden wir so viel über Deutschland?

Am See
    Oft am Morgen, wenn ich an die Arbeit fahre, steige ich vom Rad, erlaube mir eine Zigarette; das Rad schließe ich nicht ab, damit ich nicht zu lange verweile, hier wo das Wasser um die Ufersteine spielt. Eigentlich ist es ein Lagerplatz, nicht eine Anlage; zuweilen stapeln sie Kuchen von schwarzem Teer, Berge von Kies, den sie mit Lastwagen bringen und holen, und dann wieder ist alles leer; nur die hölzernen Schuppen bleiben, die großen Bruchsteine, die Eidechsen, das verrostete Blech, natürlich auch die Gruppe der Birken, das verwilderte Gras, der See und die Verbotstafel, die mich jahrelang abschreckte; die offene Weite dahinter. Jetzt ist der Platz, wo man auch baden kann, zur täglichen Zuflucht geworden, und ob ich auf dem Heimweg bin, verbraucht von einem grämlichen Tag, oder ob es wieder an die Arbeit geht, die ebenso grämlich sein wird wie gestern und vorgestern, immer fühle ich mich voll Zuversicht und Erwartung, solange ich gegen das Wasser fahre. Einmal wird auch hier ein Gendarm kommen, der nach einem Ausweis fragt; Ordnung muß sein! Es ist das letzte natürliche Ufer in unsrer Gegend; manchmal stinkt es. Ein paar verfaulte Schuhe liegen im Wasser, Scherben von Tassen und Flaschen, anderswo schimmert die weiße Rundung von einem zerbrochenen Klosett, und unter dem Sandstein, den ich mir zurecht rücke, wimmelt es von Asseln. Es ist noch Sommer, aber die Morgen sind herbstlich. Mit versponnener Sonne, mit verblauenden Ufern. Birken und Buchen hangen über den See; violett und märchenhaft verzweigen sich ihre Schatten auf dem lichten Kieselgrund, überschillert von grünlicher Kühle. Man könnte stundenlang hinschauen. Das Wasser, ob es eine Quelle ist, ein stürzender Bergbach oder ein Fluß, ein zahmer und friedlicher See, immer hat es das Gefälle zum Meer,zur Größe, und es ruht nicht, bevor es teilhat an der Größe, an der wässernen Wölbung unseres Gestirnes. Vielleicht ist es das, was zum Wasser lockt; unter anderem. Und dann das grüne Licht unter einer Barke, die an der Boje liegt; Schattenwasser, aber durchleuchtet von der Sonne, die jenseits der Barke in die Tiefe sinkt; hin und wieder sieht man ein Rudel von kleinen Fischen darin, schattengrau, plötzlich entblößt von der tarnenden Spiegelung. Wieder kommen die beiden Schwäne, lautlos, aufrecht, hastlos und herrlich, und über der wässernen Spiegelung zittert der Lärm der nahen Stadt; das Rollen einer Straßenbahn, das Dröhnen der Brücke, das Rasseln eines Krans, das unbestimmbar Geschäftige. Schon lange hat es acht Uhr geschlagen; man denkt an die Hunderttausend, die jetzt an ihren Pültchen sitzen, und das schlechte Gewissen, ich weiß, es wird mich erfassen, sobald ich das Rad wieder besteige. Am Wasser aber fühle ich mich frei, und alles, was auf dem Land sich tut, liegt hinter mir und nicht auf meinem Weg; ich weiß genau um meine Versäumnisse, die sich mehren mit jedem Glockenschlag; aber die Schwäne sind wirklicher, das plötzliche Gerausch der Wellen und das blinkende Gekringel auf dem Kieselgrund, das Kreischen der Möwen, die auf den Bojen sitzen. Oft, während ich hier sitze, immer öfter wundert es mich, warum wir nicht einfach aufbrechen –
    Wohin?
    Es genügte, wenn man den Mut hätte, jene Art von Hoffnung abzuwerfen, die nur Aufschub bedeutet, Ausrede gegenüber jeder Gegenwart, die verfängliche Hoffnung auf den Feierabend und das Wochenende, die lebenslängliche Hoffnung auf das nächste Mal, auf das Jenseits – es

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