Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Freude reden; es tönt nach Zuversicht oder Hohn, und eigentlich ist es keines von beidem, was man beim Anblick dieser Bilder erlebt; es ist das erfrischende Wachsein eines Wandrers, der sich plötzlich an einer klaren und deutlichen Wegkreuzung sieht, das Bewußtsein, daß wir uns entscheiden müssen, das Gefühl, daß wir noch einmal die Wahl haben und vielleicht zum letztenmal; ein Gefühl von Würde; es liegt an uns, ob es eine Menschheit gibt oder nicht.
Zum Theater
Natürlich müßte man, wenn man vom Rahmen spricht, auch von der Rampe sprechen, die ein Teil jenes Rahmens ist, und zwar der entscheidende. Eine Bühne, die keine Rampe hat, wäre ein Tor. Und gerade das will sie offenbar nicht sein. Sie läßt uns nicht eintreten. Sie ist ein Fenster, das uns nur hinüberschauen läßt. Beim Fenster nennen wir es Brüstung, und es gibt eine ganze Reihe von Einrichtungen, die einem gleichen Zwecke dienen. Alle Arten von Sockel gehören auch dazu. Immer geht es um die Trennung von Bild und Natur. Es gibt eine Gruppe von Rodin, die bekannten Bürger von Calais, die ohne Sockel gedacht waren; die Absicht bestand offenbar darin, daß man das Bild, das jene opfermutigen Bürger von Calais zeigt, als Vorbild hineintragen möchte in den Alltag, indem man es auf den gleichen Boden stellt wie die Lebenden, die ihm folgen sollen, auf das Pflaster eines öffentlichen Platzes. Das ist ein Sonderfall, der ebendadurch, daß er den Sockel vermeiden wollte, in seiner Weise bezeugt, wie wirksam und wichtig diese Einrichtung ist. Auch die antiken Tempel stehen bekanntlich auf einem Sockel von drei oder fünf oder sieben Stufen; Stufen sind ja gerade zum Betreten gemacht, könnte man einwenden, zum Überwinden der Höhe; erst wenn man es versucht, zeigt es sich, daß jene Stufen viel zu hoch sind; man kann hinaufkraxeln, aber ein würdevoller Gang ist nicht möglich, ein Gang, wie man sich einem Tempel nähert, und diese Näherung ist ja auch das Gegenteil dessen, was der Sockel will. Er trennt den Tempel von uns; aber nicht nur von uns, sondern auch vom Gelände, von den Zufällen der Landschaft; er kümmert sich nicht um das Gefälle, wie wir es beispielsweise tun, wenn wir ein Landhaus bauen. Dort ist es unser Ziel, das Haus ganz in das besondere Gelände einzuschmiegen, so, wie es nicht irgendwo und überall stehen kann, sondern nur an diesem einmaligen Ort. Das heißt: wir anerkennen die Bedingtheit, wir schlüpfen geradezu in sie hinein. Es gibt einen einzigen griechischen Tempel aus der großen Zeit, der sich dem Gelände anpaßt, der mit den Höhenunterschieden spielt, das Erechtheion auf der Akropolis. Alle anderen aber haben den Sockel, der sich über das Gelände hinwegsetzt, der den Tempel herauslöst aus allen Zufällen eines einmaligen Geländes, der ihn erhöht über alle irdischen Bedingungen, der ihn in einen anderen Raum stellt: in einen Raum des Unbedingten.
Geht es nicht überall um das gleiche?
Immer wieder gibt es Dichter, welche die Rampe überspielen; es fehlt nicht an Beispielen, wo die Schauspieler aus dem Parkett heraufsteigen, oder sie treten an die Rampe und sprechen ins Parkett, als wäre da nicht eine Kluft, wofür die Rampe nur ein schwaches Sinnbild ist; ich denke an Thornton Wilder, wo Sabine sich einmal an die Zuschauer wendet mit der leidenschaftlichen Bitte, sie möchten auch ihre Sessel hinaufgeben zum Feuer, das die Menschheit retten soll. Auch hier, wie bei der Skulptur von Rodin, soll ein Vorbild hinausgetragen werden ins wirkliche Leben, indem sich das Kunstwerk auf das gleiche Pflaster stellt, wo sie selber stehen und gehen. Es fragt sich, ob das Vorbild dadurchwirksamer wird, wenn es auf die Entrückung verzichtet. Es hat, wenn wir an den Anruf jener Sabine denken, jedenfalls den kurzen Gewinn einer Überraschung; daß er nur kurz sein kann, hat auch Wilder gewußt: sofort danach läßt er den Vorhang fallen. Es trägt sich als Ausnahme, nicht als Grundsatz. Jede Gebärde, welche die Rampe überspielt, verliert an Magie. Sie öffnet die Schleusen, was aufregend ist; aber es ist kaum so, daß darum die künstlerische Gestalt hinausströmt ins Chaos, das sie verwandeln möchte, sondern das Chaos stürzt hinein in den Raum, den wir einen andern genannt haben, in den Raum der Dichtung, und der Dichter, der die Rampe niederreißt, gibt sich selber auf.
Aus Mode?
Aus Verzweiflung?
Vielleicht ist es kein Zufall, daß uns als Beispiel gerade jene Sabine einfiel, welche die Menschheit retten
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