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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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genügte, den Hunderttausend versklavter Seelen, die jetzt an ihren Pültchen hocken, diese Art von Hoffnung auszublasen: groß wäre das Entsetzen, groß und wirklich die Verwandlung.
     
    Geld: das Gespenstische, daß sich alle damit abfinden, obschon es ein Spuk ist, unwirklicher als alles, was wir dafür opfern. Dabei spürt fast jeder, daß das Ganze, was wir aus unseren Tagenmachen, eine ungeheuerliche Schildbürgerei ist; zwei Drittel aller Arbeiten, die wir während eines menschlichen Daseins verrichten, sind überflüssig und also lächerlich, insofern sie auch noch mit ernster Miene vollbracht werden. Es ist Arbeit, die sich um sich selber dreht. Man kann das auch Verwaltung nennen, wenn man es sachlich nimmt, oder Arbeit als Tugend, wenn man es moralisch nimmt. Tugend als Ersatz für die Freude. Der andere Ersatz, da die Tugend selten ausreicht, ist das Vergnügen, das ebenfalls eine Industrie ist, ebenfalls in den Kreislauf gehört. Das Ganze mit dem Zweck, der Lebensangst beizukommen durch pausenlose Beschäftigung, und das einzig Natürliche an diesem babylonischen Unterfangen, das wir Zivilisation nennen: daß es sich immer wieder rächt.

Der Graf von Öderland
    Hütte eines Holzfällers; am Herd steht ein Kind, ein junges Mädchen, und eine Mutter stellt die Teller auf den Tisch.
    »Die Suppe ist fertig. Wenn Vater nicht kommt, nachher ist alles wieder kalt, und dann schimpft er wieder.«
    »Immer das gleiche …«
    »Vater?«
    »Er hat es schon lange gehört. Schöpf nur!«
    Das Kind schöpft, und nach einer Weile hört man den Vater, wie er die Schuhe an der Schwelle abschlägt. Dann steht er in der offenen Türe, schlägt sich den letzten Schnee von den Schultern, und nachdem er die Türe geschlossen hat, stellt er die Axt an die Wand. Er ist der Mann, der die Bäume fällt und das Holz macht, das die andern in Papier verwandeln werden, und natürlich ist er sehr arm. Die Mutter betet:
    »Komm, Jesus Christ, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast.«
    Der Vater löffelt.
    »Amen.«
    Sie essen wortlos.
    »Was ist das für ein Kerl«, sagt endlich der Vater: »der draußen herumstreicht?«
    »Wo?«
    »Was das für ein Kerl ist, frage ich.«
    »Immer schaust du mich an!« sagt das Kind. »Wie soll ich es wissen?«
    »Mir streicht er nicht nach.«
    »Ich weiß nicht, wen du meinst, ich habe seit Wochen keinen Menschen gesehen.«
    »Salz ist auch nicht da –.«
    Die Mutter holt es.
    »Gestern schon, als ich die Knüppel machte, Stunden lang steht er droben im Wald, die Hände in den Manteltaschen, schaut mir zu, stundenlang, während es schneit.«
    »Und was will er denn?« fragt die Mutter.
    »Das möchte ich auch wissen. Einmal wird er mich schon fragen, dachte ich. Ich habe Zeit –«
    »Wie sieht er denn aus?«
    »Mit einer Ledermappe –.«
    »Ein Herr?«
    »Jetzt steht er draußen bei der Säge.«
    Die Mutter tritt ans Fenster, aber es dämmert schon, und offenbar sieht sie nichts. Es schneit. Man hört den Vater, der die Suppe schmatzt. Das Mädchen löffelt nicht weiter, sondern schaut über den Teller hinweg und spricht ins Leere:
    »So ist unser Leben.
    Abend für Abend.
    Es tickt unsre Uhr,
    und ich weiß nicht,
    wer spricht
    hier aus der Runde,
    mir aus dem Munde;
    ich höre es nur …«
    Der Vater:
    »Was glotzest du wieder?«
    Das Kind:
    »Sie hören mich nicht,
    es schreit meine Seele umsonst;
    sie glauben es nicht,
    bis es geschieht,
    bis jedermann sieht …«
    Der Vater ißt weiter:
    »Sie denkt wieder an ihren Grafen, tagein und tagaus.«
    Das Kind:
    »So ist unser Leben.
    Eines Morgens aber,
    wenn ich die Knüppel bringe
    wie immer und immer,
    wenn alles von vorne beginnt:
    da steht er im Zimmer,
    plötzlich,
    der Graf von Öderland!
    Da steht er und hat eine Axt in der Hand,
    und wenn mein Vater mich schimpft
    wie immer und immer,
    dann spaltet er ihn wie ein Scheit.
    Wir gehen hinaus in die Welt.
    Und jedermann fällt,
    der uns die Wege verstellt;
    Graf Öderland kommt mit der Axt in der Hand.«
     
    In der Türe, die sich unterdessen langsam öffnete, ist ein fremder Mensch erschienen, ein Herr in Mantel und Hut, auch hat er wirklich eine Ledermappe. Er steht lange, bis man ihn in dem Dämmerlicht bemerkt. Und auch da, als man sich gegenseitig anschaut, geht es noch eine Weile, bis der Vater sagt:
    »Wollen Sie zu uns?«
    »Wenn ich störe, sagen Sie es –«
    »Wen suchen Sie?«
    »Wir sind grad beim Essen«, sagt die Mutter: »Wenn Sie einen Teller Suppe haben

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