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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Lüge, sondern redlicher Ausdruck einer Meinung, die sich ihrer Bedingtheit nicht bewußt ist. Lügen kann nur der Bewußte. Es wird viel weniger gelogen, als wir meinen. Lügen verbraucht Kraft, im Gegensatz zur Verlogenheit, Lügen ist durchaus eine Tat, eine luziferische. Lügen ist bewußtes Verschweigen eines andern Bewußtseins, erfordert Willen und ist stets ein Wagnis, wogegen die Verlogenheit, selbst wenn sie wörtlich das gleiche sagt, durchaus bieder bleibt, sittsam, behaglich – und drum ist der Verlogene nie widerlegt, nur entrüstet, wie man über eine Tempelschändung entrüstet ist; sein Tempel ist die Zuversicht, daß alles, was ihm am meisten frommt, die Wahrheit sei, nicht seine Wahrheit, sondern dieWahrheit schlechthin, die ewige, die unabänderliche, die unantastbare, die heilige – die unbedingte.
    Voraussetzung der Toleranz (sofern es sie geben kann) ist das Bewußtsein, das kaum erträgliche, daß unser Denken stets ein bedingtes ist.
     
    Toleranz ist immer das Zeichen, daß sich eine Herrschaft als gesichert betrachtet; wo sie sich gefährdet sieht, erhebt sich immer auch der Anspruch, unbedingt zu sein, also die Verlogenheit, das Gottesgnadentum meines Vorteils, die Inquisition.

Zürich, 9. 11. 1947
    »Die unterzeichneten Schriftsteller, die sich in Zürich begegnet sind, stellen fest, daß die Existenz zweier verschiedener ökonomischer Systeme in Europa für eine neue Kriegspropaganda ausgenutzt wird. Nicht nur besorgt um das Schicksal ihrer Länder, sondern der ganzen Welt, bitten sie die Schriftsteller aller Nationen, den beiliegenden Aufruf mitzuunterschreiben und in seinem Sinne zu wirken.«
    Die erste Gruppe, entstand aus einer zufälligen Begegnung, besteht aus sieben Leuten; trotz einem amerikanischen Paß, einem Staatenlosen und einem Schweizer ist es vorläufig eine sehr deutsche Stimme, die sich erhebt, soll aber eine Weltstimme sein. Jeder wird versuchen, durch persönliche Briefe um weitere Unterschriften zu werben, damit schon die erste Gruppe einen weiteren Rahmen hat; ich unternehme die Werbung unter meinen Landsleuten. Vor allem müßte es natürlich gelingen, Schriftsteller aus dem Westen und aus dem Osten zu vereinigen. Wenn nur die Hälfte unterzeichnet, hat der Aufruf überhaupt keinen Sinn, von Wirkung ohnehin zu schweigen. Versichert nicht jede Seite, daß sie den Frieden will? Freilich nicht den Frieden mit dem Gegner, und damit wird das Wort zur platten Kampflüge; was heißt denn Friede, wenn nicht Friede mit dem Gegner? Langsam merken wir schon, wo der Haken liegt; das Gespräch wird trockener;eine schöne Wallung, ein männlicher Ernst, der zur Füllfeder hat greifen lassen, ein gewisser Rausch, der sich bei solchen Anlässen sogar der lebenslänglichen Spötter bemächtigt, ist verebbt, bevor die letzte Unterschrift ganz trocken ist –
    Der Aufruf würde lauten:
    »Die Erwartung eines neuen Krieges paralysiert den Wiederaufbau der Welt. Wir stehen heute nicht mehr vor der Wahl zwischen Frieden oder Krieg, sondern vor der Wahl zwischen Frieden oder Untergang. Den Politikern, die das noch nicht wissen, erklären wir mit Entschiedenheit, daß die Völker den Frieden wollen.«

In der Bahn
    Der erhebliche Ausfall an Männern, die gefallen oder noch immer in Gefangenschaft sind – spürbar, sobald man auf deutschem Boden ist; weniger im Straßenbild als im persönlichen Umgang; spürbar vor allem an den Frauen zwischen dreißig und vierzig –.

Frankfurt, November 1947
    Ricarda Huch, die Jena insgeheim verlassen hat, liegt mit einer schweren Lungenentzündung, nicht mehr zu sprechen; ihre Nächsten sind bereit, unser Schreiben vorzulegen, wenn es möglich ist.
     
    Im ganzen, wenn ich mich nicht täusche, geht es etwas besser als vor einem Jahr. Nicht viel. Oder hat man sich einfach an die Trümmer gewöhnt? An den Kiosken gibt es Zeitungen. Die Menschen sehen eher schlechter aus. Die Not hat an Abenteuer verloren, Alltag, es ist nicht abzusehen, was kommen soll. Eine gewisse Hoffnung, die der Zusammenbruch ausgelöst hat, wird schäbig wie die letzten Kleider. Ich lese Plakatwände: Aufrufe für das Goethehaus, ein Vortrag über Buddhismus, ein Kurs fürenglische Sprache, ein Kabarett, ringsum eine Wüste von kleinen Anfragen: Gesucht ein Zimmer in Stadtnähe. Und immer wieder: Wer kann Auskunft geben über meinen Sohn? Dazu ein Bild; das Lächeln eines gesunden Obergefreiten, die trauerlose Zuversicht eines jungen Gesichtes, wie es sie nur noch an

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