Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
wie mit einer Flitspritze umher, und kaum erschreckt sie etwas Lebendiges, spritzen sie mit geschlossenen Augen:
»Nihilismus, Nihilismus –«
Nihilist in diesem Sinn, wie unsere Presse es meint, ist auch der Arzt, der mich heute geröntgt hat, statt daß er meine Wange schminkt; denn was zum Vorschein kommt, wenn er röntgt, wird nicht schön sein –.
Was sie positiv nennen:
Die Angst vor dem Negativen.
(Selbstverständlich ist es nicht entscheidend, ob man Ja oder Nein sagt, sondern wozu man es sagt, und der Glaube, der sich in einem Nein ausdrückt, ist nicht immer der geringere, meistens sogar der keuschere.)
Ihr Ja: als ein Ja zur Lüge.
Was Brecht betrifft, um den es in diesem Aufsatz geht, frage ich mich, ob ein Nihilist, ein wirklicher, imstande wäre, eine Veränderung zu wollen. Brecht aber, das weiß auch dieser Kritiker, will durchaus eine Veränderung, eine ganz bekannte, genau beschreibbare. Wer keine Veränderung will, weil der herrschende Zustand zu seinem Vorteil gereicht, oder wer eine andere will, kann ihn als Gegner bezeichnen, keinesfalls als Nihilist. Wer den Bürger verneint, verneint noch nicht den Menschen, und wer den Körper durchleuchtet, verneint nicht den Geist – sondern er wendet ihn an.
Ferner: unser Verhältnis zum Häßlichen, und warum sie dem Künstler, wenn er das Häßliche zeigt, meistens die Künstlerschaft absprechen –
Der Bürger sagt:
»Die Kunst beschäftige sich mit dem Schönen.«
(Damit sie sich nicht mit ihm beschäftige?)
Goethe sagt:
»Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten.« (Maximen und Reflexionen.)
Nur wer das Schöne selber vermag, scheint es, erträgt auch den Anblick des Häßlichen, und zwar so, daß er es darstellen kann.
Woran verrät sich der Dilettant?
Seine Gegenstände sind immer schön.
Letzigraben
Meine Baustelle hat noch wenig mit Architektur zu tun. Gräben voll Lehmwasser, Röhren, Hügel von Aushub, der bereits einen Schimmer von grünendem Unkraut hat, dazwischen Baracken, Latrinen, Schuppen voll Gerät oder Zement in papiernen Säcken, Stapel von Brettern, eine Landschaft aus Prügelwegen und Tümpeln, Sprießungen, Flaschenzügen, wo sie die schweren Rohre hinunterlassen. Vom künftigen Hochbau sieht man jetzt die ersten Fundamente, eine Pfahlbauerei aus Eisenbeton; ich bin fröhlich überrascht, wie groß es wird. Trotz der vielen, teils sieben Meter tiefen Gräben bisher nichts gefunden, nicht einmal ein menschliches Skelett, nur Knochen von Pferden. Hier haben die Russen gegen die Franzosen gekämpft; die Ziegel einer römischen Villa sind weithin verstreut über Galgenhügel, Schindanger, Schrebergärten … Zur Zeit bin ich es, der seinen Willen einträgt in dieses Flecklein unsrer Erde, Feldherr über fünfunddreißigtausend Quadratmeter.
Unterwegs
Das Wissen, daß es sehr verschiedene Grade der Unfreiheit gibt, doch keine Freiheit, obschon jeder sie ausruft, der uns unterdrücken will, dieses Wissen als unerläßliche Voraussetzung dafür,daß man sich nicht selber zum Narren macht und eines Tages, vom Einen enttäuscht und betrogen, nicht seinem Gegner verfällt mit ebenso kindischer Hoffnung.
Unterschied des Grades: ob sie dich beschimpfen und fälschen, und du kannst dich nicht wehren, oder ob sie dich verhaften und schinden, und du kannst dich nicht wehren.
Ein Bürgersohn, ein Akademiker, viel belesen, viel gereist, beflissen, ein Mensch guten Willens zu sein und ein rechtschaffener Intellektueller – wenn er behauptet, unsere Gesellschaft sei die einzige, welche die Freiheit darstelle, kann man sagen, daß er lüge? Daß hierzulande ein jeder, der begabt ist, seine Begabung schulen und ausüben könne, davon ist er ohne Wimperzucken überzeugt; betreten nur, erstaunt, peinlich berührt, daß ich es nicht bin. Ich erzähle Beispiele, die sein ehrliches Bedauern auslösen, ohne ihn grundsätzlich zu erschüttern; er hat zwei Arten von Antwort. Erstens: Alles, was ich anführe, sind Ausnahmen, Sonderfälle, Mißgeschicke. Zweitens: Ob ich denn glaube, der Kommunismus sei die Freiheit. Nicht zu erschüttern ist sein Glaube, daß es Freiheit geben kann, Freiheit für alle, daß es sie gibt – und zwar bei uns … Er selber nämlich, das ist es, fühlt sich durchaus frei: wie jeder sich frei fühlt in jeder Gesellschaft, die seinen Vorteil schützt, so daß er mit ihr einverstanden ist.
Vielleicht ist das meiste, was uns als Lüge empört, in diesem Sinne durchaus keine
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