Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Themas.
Malerei und Plastik am Ort ihrer Entstehung; plötzlich überzeugt es, daß Bilder zwölf oder neunzehn Meter lang sind, Plastiken von einer Kubatur, die in keine Galerie mehr zu stellen ist. Keine Verinnerlichung der Umwelt, sondern ein Gegenschlag. Und Paris ist nicht mehr der Ort, wo die Krönungen stattfinden –
öffentliche Fragestunde in der Columbia-Universität. Was wollen sie wissen? Keine politische Frage; wenn einmal die Antwort trotzdem ins Politische weist, so schweigen sie tolerant-irritiert. Die Älteren fragen aus dem Bezirk um Freud oder C. G.Jung, die Jüngeren aus dem Bezirk um Lévi-Strauss.
Von einem Lehrer aus Queens gehört: eine Schülerin weigert sich, die Nöte der Anna Karenina zu verstehen, weil sie sowieso nicht so alt werden wolle wie diese Anna Karenina, denn in zwölf Jahren oder so gebe es in ihrer Gegend sowieso keinen Sauerstoff mehr –
Vom Schreiben in Ich-Form
Bemerkenswert das Verfahren von Norman Mailer in HEERE AUS DER NACHT : er beschreibt sich als Demonstrant vor dem Pentagon, wo er verhaftet wird, in ER-Form. Norman Mailer schreibt: Norman Mailer lachte, in diesem Augenblick zögerte er, auch Norman Mailer ließ sich jetzt von der Menge drängen usw. Nach der Verhaftung meldet er sein Erstaunen darüber, daß der Polizist seinen Namen nicht kennt, er buchstabiert ihn: M. A. I. L. E. R. Das Verfahren gibt dem Schreiber unter anderem die Freiheit, auch noch die Selbstgefälligkeit zu objektivieren. Das leistet die direkte ICH-Form nicht, die, wenn sie dasselbe lieferte, einen Zug von Masochismus hätte.
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Vielleicht empfiehlt sich die ICH-Form gerade bei Ich-Befangenheit; sie ist die strengere Kontrolle. Man könnte, um der Kontrolle willen, in der ICH-Form schreiben, dann in dieER-Form übertragen, um sicher zu sein, daß die letztere nicht nur eine Tarnung ist – aber dann gibt es Sätze, die nur in der ICH-Form ihre Objektivität gewinnen, wogegen sie, Wort für Wort in die arglose ER-Form übersetzt, eben feige wirken; der Schreiber überwindet sich nicht in der ER-Form, er kneift nur.
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Meine ich denn, daß mein Befinden (wie ich heute erwacht bin usw.) von öffentlichem Interesse sei? Trotzdem notiere ich es ab und zu und veröffentliche es sogar. Das Tagebuch als Übung im eignen Befinden bei vollem Bewußtsein, was dran irrelevant ist –
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Was man gemeinhin als Indiskretion bezeichnet: Mitteilungen aus dem privaten Bezirk des Schreibers, die den Leser nichts angehen. Und was die eigentliche Indiskretion ist: wenn einer mitteilt, was den Leser etwas angeht und was der Leser selbst weiß, aber seinerseits nie ausspricht –
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Daß der Leser trotzdem Autobiographie vermutet gerade dort, wo Erfahrung sich in Erfindung umsetzt, verhindert auch die ER-Form nicht.
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Unterschied zwischen dem erzählerischen ICH und dem direkten ICH eines Tagebuches: das letztere ist weniger nachzuvollziehen,gerade weil es zu vieles verschweigt von seinen Voraussetzungen, dadurch eine Zumutung: – keine Figur: nämlich zu einer Figur gehört auch, was sie verhehlt, was sie selber im Augenblick nicht interessiert, was ihr nicht bewußt ist usw.
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Im Sinn der Beicht-Literatur (maximale Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst) vermag die ER-Form mehr.
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Zu Anfang ist es leichter mit der ER-Form als später, wenn die bewußten oder unbewußten Ich-Depots in mannigfaltiger ER-Form notorisch geworden sind; nicht weil der Schreiber sich als Person wichtiger nimmt, aber weil die Tarnung verbraucht ist, kann er sich später zur blanken ICH-Form genötigt sehen.
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Die unverblümten ICH-Schreiber wie Henry Miller, Witold Gombrowicz u. a. machen ja keine Beicht-Literatur und sind dadurch erträglich, daß das ICH eine Rolle wird. Schreiber solcher Art wirken eher unschuldig, sie dichten am eignen Leib und leben ihre Dichtung auf Schritt und Tritt, und kaum je entsteht der peinliche Eindruck, daß sie Privat-Intimes auskramen; sie sind eben ihr literarisches Objekt, ihre Figur, daher gibt es keine Eitelkeit zu verbergen, sie gehört zur Figur mit allem andern.
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Warum sind – im Gegensatz zur Arroganz, die sich jede Nacktheit leisten kann – Zeichen von Resignation immer indiskret? Zum Beispiel der alte Gide: er schreibt nicht indiskreter als der frühere Gide, aber in der Resignation wirkt er indiskreter.
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Was an einem
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