Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
öffentlichen Tagebuch fragwürdig bleibt: die Aussparung von Namen und Personalien aus Gründen des Takts. Die Brüder Goncourt haben sich nicht gescheut: wer mit ihnen speiste, geriet durch ihr Tagebuch in die Öffentlichkeit. Warum scheue ich mich? Dadurch entsteht der Eindruck, der Tagebuchschreiber sehe nur sich selbst als Person, seine Zeitgenossen als anonyme Menge. Wenn jemand der Öffentlichkeit schon bekannt ist, erübrigt sich zwar die Scheu; nur entsteht dann der Eindruck, der Tagebuchschreiber lebe ausschließlich mit berühmten Zeitgenossen oder halte nur sie für buchenswert. Warum also nicht die Namen und Personalien aller Leute, die den Tagebuchschreiber beschäftigen? Es brauchte ja keine üble Nachrede zu sein, aber auch das Gegenteil wäre indiskret. Woher nehme ich das Recht, die andern auszuplaudern? Der Preis für diese Diskretion: die Hypertrophie der Egozentrik, oder um dieser zu entkommen: eine Hypertrophie des Politischen?
SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH
Im vergangenen Winter wäre es beinahe wieder eine rühmliche Bühne geworden, eine politische. Sein Ruhm, allerdings schon lange verblaßt, begründete sich zur Hitler-Zeit; man weiß es noch: ein antifaschistisches Theater.Später dann wurde auch die Bourgeoisie darauf stolz; heute sagt sie: Unser Schauspielhaus! Nicht zu Unrecht, wie sich jetzt zeigt. Der Verwaltungsrat hat es sofort gemerkt, das neue Gefälle nach links, und nachdem die bürgerliche Presse dafür gesorgt hat, daß die Kasse zu wünschen übrigläßt, erfolgt die Kündigung des Direktors und des Dramaturgen (Peter Löffler, Klaus Völker) im dritten Monat ihrer ersten Spielzeit. Der Verwaltungsrat, dem übrigens kein einziger Theatermann angehört, hingegen der eine und andere Bankier neben Vertretern der städtischen Behörde, hat allerdings Pech: der neue Direktor, bereits gewählt, kann die Verdächtigung, daß er zur Hitler-Zeit keine lautere Figur gewesen sei, nicht entkräften. Das wußte allerdings niemand. Auch kann ein Mann, so meinen wir, seine Gesinnung ändern. Was nichts damit zu tun hat: die Kündigung des Vorgängers wegen Gefälle nach links, wobei den Herren des Verwaltungsrats schon Eduard Bond als Marxist erscheint, eine Kündigung übrigens, der auch die sozialdemokratischen Vertreter zugestimmt haben. Unsere öffentlichen Bemühungen, vorerst diesen Verwaltungsrat zu entmachten, der über öffentliche Gelder verfügt nach dem Kunstbedürfnis der Bankiers, sind jetzt gescheitert: Friedrich Dürrenmatt hat sich zur Verfügung gestellt (wie ich heute aus der Tagespresse erfahre) als Künstlerischer Berater und Mitglied dieses Verwaltungsrats.
Nachtrag zur Reise
Sagt man, es sei nicht der erste Besuch in den Vereinigten Staaten, so kommt fast immer die Frage: Finden Sie's verändert? Dabei erwarten sie alles andere als die Antwort, es habe sichzum Guten verändert. Das finde ich aber … Damals war ihre Frage in jedem Langstrecken-Bus: HOW DO YOU LIKE AMERICA ? eine leutselig-frohe Frage, die auf Beifall wartete selbstverständlich; eigentlich wunderte sie nur, was uns am meisten imponiere. Am meisten imponierte mir damals die Wüste. Es war die Zeit von McCarthy. Ein Antikommunismus ohne Kenntnis, was Kommunismus will, in Verbindung mit einem repressiven Patriotismus (nicht viel anders als bei uns), ist nicht geschwunden; im Schwinden ist trotz allem die Arroganz der Macht, auch wenn sie sagen: Wir sind das reichste Land der Welt. Das stimmt ja. Sie sind erschreckt. Luftverschmutzung ist ja nur eine Metapher für alle andern Realitäten, die sie erschrecken. Zumindest ist man nicht mehr sicher, daß alles, was größer und größer wird, auch erfreulich sei. Kaum ein Abend, ohne daß Sorge sich ausdrückt; nicht selten die offenherzige Frage: Sind wir auf dem Weg zum Faschismus? Einiges spricht dagegen, z. B. das puritanische Erbe; die Debatten über Amerika, die sie unter sich selber führen, werden länger und enden nicht in Zuversicht, meistens nicht einmal in Gutheißung der Geschichte. Die Vernichtung der Indianer erscheint kaum noch als glorreiche Erfüllung eines göttlichen Auftrags, sondern als Genocid; das Jäger-Selbstverständnis der Vorfahren ist zwar zu erklären, aber das Ergebnis heißt heute Genocid. Es stimmt, was der Präsident sagt: die USA haben seit ihrem Bestehen, also sei 190 Jahren, nie einen Krieg verloren. Nur bleibt der Sieg aus. Was man aus Vietnam weiß, bleibt ein Schock, selbst wenn die Truppen einmal abziehen:
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