Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
eine Frage, aber es kommt nicht dazu; wir besichtigen einen Salon, wo Henry A. Kissinger und der Botschafter der UdSSR zu sitzen pflegen. Ich nicke, als bedürfe es meiner Bestätigung. Der Salon erinnert mich an das Kurhaus Tarasp: viele Fauteuils in kleinen Gruppen, alle unbequem, aber gediegen, Stil, vermutlich sind es echte Antiquitäten. Jetzt hat Henry A. Kissinger beide Hände in den Hosentaschen, um zu zeigen, daß er für die Innen-Architektur nicht verantwortlich ist. Das ist auch Nixon nicht. Die Wohnung, die der jeweilige Präsident sich nach eigenem Geschmack einrichtet, befindet sich ein Stockwerk höher; wir sehen lediglich die Staatsräume, die, wie gesagt, jeder amerikanische Bürger besichtigen kann zu gewissen Zeiten. Demokratie kennt kein Geheimnis vor den Wählern … Hier also (jetzt nicke ich schon, bevor ich weiß, was es zu bestätigen gilt) versammelt sich das Kabinett. Ein überzeugender Saal. Um einen langen und breiten und schweren Tisch stehen Sessel aus Leder, nicht allzu prunkvoll, gerade richtig: Sessel, die zum aufrechten Sitzen verpflichten. Hier ließe sich verhandeln, ob Kambodscha überfallen werden soll oder nicht. Es sei aber, so höre ich, nicht oft der Fall, daß das Kabinett hier zusammenkommt, und dann sei es nur langweilig. Henry A. Kissinger lächelt; er wollte uns nur den Saal zeigen. Die Entscheidungen fallen nicht hier, sagt er –
Walter J. Hickel, Interior Secretary, beklagt in einem veröffentlichten Brief, daß ihn der Präsident in einem Jahr nur dreimal konsultiert hat; er schreibt: »Permit me to suggest that you consider meeting, on an individual and conversational basis, with members of your Cabinet. Perhaps through such conversations we can gain greater insight into the problems confronting us all –«
Meine Frage wäre gewesen, was Nixon mit der Macht eigentlich will. Es gibt Ziele, die man nur verwirklichen kann, indem man an die Macht gelangt. (Abschaffung der Armut im reichsten Land der Welt, Integration der Neger, Frieden ohne Ausbeutung anderer Völker usw.) Was ist das Ziel dieses Richard Nixon? – aber meine Frage erübrigt sich; es war sein Ziel, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, und er hat sein Ziel erreicht, indem er kein anderes hatte, Macht als Ziel der Macht, und daß Nixon durchaus den Frieden will, wenn es kein anderes Mittel gibt, um an der Macht zu bleiben, glaube ich ohne Frage –
Alles nimmt überhand: der Kehricht, die Jugend, das Haar, die Drogen, die Neger, die Unruhen, die Studenten, der Protest auf der Straße, die Angst vor Amerika. Die neuen Wolkenkratzer, auch die Gitarre nimmt überhand. Im Herbst, als sie wieder einmal nach Washington zogen, soll es eine Viertelmillion gewesen sein, die sich um das Weiße Haus versammelte, PEACE NOW, STOP THE WAR, PEACE NOW, es gab keine Toten; Präsident Nixon ließ sein Fenster schließen und schaute (wie er selber bekanntgab) Baseball im Fernsehen. Ein halbes Jahr später, 9. 5. 1970, lagern sie wieder um den Park, OUT OF CAMBODIA, diesmal nur Hunderttausend, viele glauben nicht mehr, daß sie gehört werden, aber Nixon hat eine schlaflose Nacht, laut Presse: in der Morgenfrühe begibt der Präsident sich zum Capitol, wo er mit einigen Studenten spricht und verlangt, daß sie ihn verstehen müssen, denn er trägt die Verantwortung dafür, daß die Vereinigten Staaten die führende Macht bleiben. Die Studenten sagen: Dann redete er über Sport. Laut Presse: Der Präsident frühstückte Schinken mit Ei. Gegen Krise hilft Krieg, aber was hilft gegen die Jugend, die überhand nimmt? 400 Universitäten treten in Streik wegen der erschossenen Studenten von Kent State.
Im Park, der, wie wir durchs Fenster schon mehrmals bemerkt haben, sehr schön ist, aber keine Frage beantwortet, sagt HenryA. Kissinger, er werde nicht allzu lange in seinem Amt bleiben; er habe kaum noch ein privates Leben. Das Weiße Haus jetzt von außen: wie man es von Bildern kennt. Hier im Freien zünde ich endlich meine Pfeife an, während wir gehen und nur unsere Schritte im Kies hören. Was reden? Ein sommerlicher Tag. Wer Entscheidungen fällt oder zu Entscheidungen rät, die Millionen von Menschen betreffen, kann sich nachträgliche Zweifel, ob die Entscheidung richtig ist, nicht leisten; die Entscheidung ist gefallen, das weitere abzuwarten. Man könnte jetzt durchaus einen Witz erzählen, aber es fällt mir keiner ein.
Heute früh in Jimmy's Coffee-shop: das
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