Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
war peinigend, nicht zu tilgen durch Berichte, wie es Suhrkamp ging, nämlich schlecht. Wiedervereinigung? Dazu Brecht: »Wiedervereinigung heißt noch einmal Emigration.«
Es bleibt rätselhaft, daß Brecht sich einen Stahlsarg verordnet hat. Wovor soll der Stahlsarg schützen: vor den Machthabern? vor der Auferstehung? vor dem »Aas mit vielem Aas«?
Es gibt einen Satz, der Brecht gerecht wird, obschon er nicht auf ihn geschrieben worden ist: »Trotz der Einseitigkeit seiner Lehre ist dieser märchenhafte Mensch unendlich vielseitig«, ein Satz von Maxim Gorki über Leo Tolstoj.
ZÜRICH
Mutter im Sterben. Zeitweise meint sie, daß wir zusammen in Rußland sind. Sie ist 90. Ob sich in Odessa viel verändert habe seit 1901.
Nachtrag zur Reise
In nächtlichem Zimmer zeigt jemand ein Papier, ein Formular mit russischer Schrift, ein graues und mürbes Blatt: auf der Rückseite bekritzelt von Rand zu Rand mit einer winzigen Handschrift, die nur mit der Lupe zu lesen sein dürfte. Eine Genossin wurde deportiert, sie erfuhr nie, warum. Nach einem Jahr im Lager bat sie um Einzelzelle, was schlimmer ist; Ratten. Ihre zweite Bitte: Papier. Beides wurde ihr schließlich gewährt. Sie bekam solche Formulare der Lager-Verwaltung und verbrachte drei Jahre in Einzelhaft. Sie übersetzte aus dem Gedächtnis: DON JUAN von Lord Byron. Als sie damit zu Ende war, bat sie um Entlassung aus der Einzelhaft. Jetzt wieder im Sammellager und bei der Landarbeit trug sie das Manuskript am Leib versteckt. Nach insgesamt 8 Jahren (wenn ich richtig berichte) wurde sie als unschuldig entlassen. Ihre Übersetzung von Lord Byron wird jetzt, 1966, gedruckt und soll in einem großen Theater vorgetragen werden.
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Ich habe Rubel, Honorar für den Abdruck eines Romans in der Zeitschrift INOSTRANJA LITTERATURA , 900 Rubel. So viel verdient ein Arbeiter in einem halben Jahr. Ich kann nichts damit anfangen: Hotel und Flugreisen sind mit Dollar zu bezahlen. Und ausführen darf ich die Rubel auch nicht. So bleibt uns nur, Champansky zu trinken, Kaviar zu essen. In Odessa gibt es keinen. Ein Flug auf die Krim ist nicht möglich: erstens nicht mit meinen Rubel, zweitens haben wir keine Dollar mehr, drittens brauchten wir nochmals ein Visum aus Moskau. So vertreiben wir die Zeit (die schöne Potjomkin-Treppe kennen wir inzwischen; die Liebknecht-Kolchose, ineinem bunten Prospekt als Vorbild angepriesen, ist nur mit Dollar-Taxi zu erreichen, und als dafür unsere Dollar gerade noch reichen, ist sie nicht zu besuchen wegen Klauenseuche, »einer Krankheit, die es auch im Westen gibt«) – so vertreiben wir uns die Zeit auf einem Fußballplatz, Karten durch INTOURIST , numeriert. Zufällig sitzt gerade neben uns ein junger Mann, der Deutsch spricht, ein Freund der Literatur; er kennt Heinrich Böll, Erich Maria Remarque; dann zieht er aus seiner Mappe die bekannte Zeitschrift mit einem deutschen Roman, den er eben lese – so ein Wunder: daß ich der Verfasser bin, jawohl, gerade ich. Von Fußball versteht unser Freund weniger. Abend mit Champansky. Gespräch über Gott und die Astronauten. Boris ist Lektor, 80 Rubel im Monat, er wohnt in einem Zimmer mit seiner Frau, die ihre Doktorarbeit schreibt, ihr Diplom, ich weiß nicht: jedenfalls steht Boris zur Verfügung, wenn wir etwas wissen möchten. Zweiter Abend mit Champansky, aber ich habe immer noch 630 Rubel am Abend vor unsrer Abreise. Was tun? Am andern Morgen, drei Stunden vor Abflug, meldet sich Boris mit sonderbarer Stimme, er müsse mich sprechen. Sofort. In der Hotelhalle (dabei habe ich den Eindruck, daß das Personal ihn kennt, aber man soll's nicht merken) geht es nicht. Draußen in der Allee über dem Hafen: er könne das Geld, das ich ihm in die Zeitschrift gesteckt habe, nicht annehmen. Unmöglich. Ich erkläre ihm meine Situation. Soll ich meine Rubel hier auf die Mauer legen? Kein Sowjetmensch, sagt er, würde sie nehmen. Geld als Lohn für Arbeit, aber nicht so. Soll ich mich für diese Rubel, die ich in Moskau verdient habe, an der Zollschranke verhaften lassen? Ich sage: Boris, hören Sie! mit Blick auf die Uhr, in der andern Hand dieses Notenbündel. Es war die teuerste Reise, die ich je gemacht habe. Rubel gleich Dollar. Wenn ich nicht zur Staatsbank will (was Boris enttäuscht), ich könne ja etwas kaufen. Zwei Pelzmützen, schon in Moskau gekauft,genügen mir; die Schallplatten sind billig. Was kostet 630 Rubel, frage ich, was
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