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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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er, stelle sich nämlich nur einem Sir. 97 von 100 Erdenbewohnern haben keine Wahl, wo sie leben, und ziehen daraus ihre fortpflanzende Kraft unter jeglichen Umständen. Das ist richtig; ich denke an tschechische Freunde, an griechische Flüchtlinge, an Millionen von Indern. Als ich sage, ich sei gerne, wo ich grad bin, schüttelt er mich in meinem Regenmantel herum, spricht im Gangster-Ton: Come on, man, come on! und das auf der Helmhaus-Brücke in Zürich. Wir behindern den Verkehr. Was ihn das überhaupt angehe, frage ich, ohne nochmals an seine Hand zu fassen; sonst schüttelt er mich wieder. Schon sind wir nicht mehr allein; ein paar Leute, einer mit Aktentasche, aber auch einfache Leute, die zuerst mit der Miene von Helfern stehengeblieben sind, stimmen ein, als er fragt: Warum leben Sie denn nicht in Moskau, warum nicht in Havanna usw.? Ich sei hier geboren, sage ich mit einer Kopfbewegung, hier in dieser Gegend. Es tönt linkisch. Um glaubwürdig zu sein, gebe ich den Namen desQuartiers, beginne mich zu verteidigen: Habe ich denn gesagt, daß ich nicht gerne hier lebe? Wenigstens hat er inzwischen seine Hand von meinem Mantelkragen genommen, als genüge jetzt seine Frage: Warum nicht in Havanna, warum nicht in Peking usw.? Wir stehen jetzt, um den Verkehr nicht zu stören, am Straßenrand, während ich den Kragen meines Regenmantels ordne, ohne mich nach Helfern umzusehen; sie finden die Frage nur berechtigt, und ich weiß natürlich, welche Antwort ich der Mehrheit schulde. So viele sind es gar nicht, aber sie haben die Physiognomie der Mehrheit. Was ich jetzt rede, wird von Satz zu Satz unglaubwürdiger: Ehrenwort, ich möchte nicht anderswo leben, Ehrenwort, ich bin hier geboren und aufgewachsen und zur Schule gegangen, ferner lebe ich ja hier. Soll ich gar meinen Paß zeigen? Soll ich die Nummer meiner Altersversicherung angeben oder die ungefähre Anzahl meiner Armeediensttage ohne Auszeichnung und ohne Strafe? Da es keine Schlägerei geben wird, bleiben nur wenige. Warum schon zum drittenmal: Ehrenwort! Es dauert noch eine Weile, bis ich zugebe, daß ich mir die Frage, wo in der Welt ich leben möchte, tatsächlich schon selber gestellt habe. Das genügt, so scheint es, das genügt. Ich kann gehen.

1971

 
     
    BERZONA
     
    Schnee, viel Schnee. Die Zweige sind weißflaumig wie Pfeifenputzer. Tagsüber schaufeln wir uns frei, dann schneit es wieder in der Nacht. Nur das Fernsehen, TELEVISIONE SVIZZERA ITALIANA, bestätigt, daß die Welt weitergeht mit Staatsmännerbesuchen, Raumfahrt, Papst, Vietnam, Musik und Sport. Kein Grund zur Panik also. Auch kommt noch die Post: Soziologie reihenweise.

Glück
    »Ich hatte Glück, Fjodor Iwanowitsch, ich wage kaum dran zu denken. Ein unheimliches Glück. Sie sehen, ich fahre in der ersten Klasse. Ich habe einen Paß, ich habe einen Titel, ich bin frei. Warum ich nicht nach Sibirien gekommen bin, verstehe ich heute noch nicht, denn es fehlte wenig, Gott weiß es, sehr wenig«, sagt er, indem er Tabak nicht in die Nase stopft, sondern in eine Charatan-Pfeife; es summt auch kein Samowar, aber es ist Winter und in der Eisenbahn, und nachdem die Pfeife endlich zieht, sagt der Reisende, indem er zum Fenster hinausschaut: »Es schneit«. Es ist aber nicht Rußland, was man da draußen sieht. »Ich hatte keinen Grund zur Eifersucht«, sagt er, als wolle jemand seine Geschichte hören, »nicht den mindesten Grund. Natascha war verheiratet, aber das wußte ich von Anfang an. Vielleicht war ich sogar froh, daß Natascha verheiratet war. Jetzt denken Sie gewiß, das gehört sich nicht, weil Natascha verheiratet war. Aber das ist heutzutage anders, Fjodor Iwanowitsch. Ihr Mann war ein stiller und sanftmütiger Mensch, sogar jünger als ich, ein gerechter und bedrückter Mensch. Mag sein, daß Natascha ihn verkannt hat. Ihretwegen aber hatte ich Weib und Kinder verlassen.Das hielt ich damals nicht für moralisch, aber es machte mich doch glücklich. Ich liebte sie, Fjodor Iwanowitsch, ich liebte Natascha.« Es ist auch niemand im Abteil, der Fjodor Iwanowitsch heißen könnte oder Wassily Wassilikow oder irgendwie, und trotzdem muß er es einmal erzählen. »Sehen Sie, ich denke selten daran, um nicht zu erschrecken, eigentlich nie«, sagt er: »Ich war damals ein erwachsener Mensch, ein geachteter Mensch sozusagen, und ich glaube, Sie haben es erraten, Fjodor Iwanowitsch, ich könnte sehr wohl ein Mörder sein!« Auch der Schaffner, der einmal vorbeikommt und ins Abteil

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