Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verblichen / die Hände von alten Menschen, die man liebt / Kiesel in einem Bergbach / ein Maya-Relief an seinem Ort / Pilze / ein Kran in Bewegung / Wände mit Plakaten, die nicht mehr gelten / Schlangen im Wasser schwimmend mit gerecktem Kopf / Theater, einmal aus dem Schnürboden gesehen / Fische auf dem Markt, Fischernetze zum Trocknen auf dem Pflaster, Fische aller Art / Wetterleuchten / Flug der schwarzen Berg-Dohlen, wenn man auf dem Grat steht, ihr Flug über die Schlünde / ein Liebespaar in einem stillen Museum / das Fell gewöhnlicher Rinder in Griffnähe / Sonnenkringel in einem Glas voll Rotwein (Merlot) / ein Steppenbrand / das Bernstein-Licht im Zirkuszelt an einem sonnigen Nachmittag / Röntgen-Bilder, die man nicht versteht, das eigene Skelett wie in Watte oder Nebel / Brandungen, ein Frachter am Horizont / Hochöfen / ein roter Vorhang, von der nächtlichen Straße her gesehen, Schatten einer unbekannten Person darauf / Glas, Gläser, Glas jeder Art / Spinnweben gegen Sonne im Wald / Kupferstiche mit gelben Flecken auf dem Papier / viele Leute mit Schirmen, Scheinwerferglanz auf dem Asphalt / Mädchenbildnis der eigenen Mutter, in Öl gemalt von ihrem Vater / die Gewänder der Kirche, der ich nicht angehöre / das olivgrüne Leder auf einem englischen Schreibtisch / der Silser-See / Blick eines verehrten Mannes, wenn er die Brille abgenommen hat, um sie zu putzen / das Geschlinge von blinkenden Geleisen vor einem Großbahnhof in der Nacht / Katzen / Mondmilch über dem Dschungel, wenn man in der Hängematte liegt und Bier trinkt aus Büchsen und schwitzt und nicht schlafen kann und nichts denkt / Bibliotheken / ein gelber Bulldozer, der Berge versetzt / Reben beispielsweise im Wallis / Filme / ein Herrenhut, der über die Spanische Treppe hinunter rollt /wenn man mit breitem Pinsel eine Wand anstreicht, die frische Farbe / drei Zweige vor dem Fenster, Winterhimmel über roten Backstein-Häusern in Manhattan, Rauchwirbel aus fremden Kaminen / der Nacken einer Frau, wenn sie sich kämmt / ein russischer Bauer vor den Ikonen im Kreml / März am Zürich-See, die schwarzen Äcker, Föhn-Bläue über Schattenschnee –
usw.
usw.
usw.
Freude (Bejahung) durch bloßes Schauen.
BERLIN
Seit langer Zeit zum ersten Mal am Alexander-Platz. Vorher durch die Schleuse der Verdächtigung; die grünen Uniformen erinnern mich ungerechterweise an die Hitlerzeit. Befangenheit meinerseits. Warum eigentlich? Ich gehöre einem Staat an, der diesen Staat nicht anerkennt; ich anerkenne. Gang durch die Hauptstadt mit preußischer Geschichte, Plakate mit Lenin vor der Architektur eines Wirtschaftswunders. Meine Befangenheit verliert sich auf der Fahrt durch märkisches Land, Ebene mit Wald, großer lichter Himmel. Besuch bei Peter Huchel in Potsdam (22. 9.), der, einst anerkannt als Kämpfer gegen den Faschismus, noch immer keine Ausreisebewilligung bekommt.
FRANKFURT
Buchmesse. Der Unterschied zwischen einem Pferd und einem Autor: das Pferd versteht die Sprache der Pferdehändler nicht.
ZÜRICH
Heimatgefühle im COOPERATIVO, Restaurant an der Militärstraße; das Haus wird demnächst abgerissen … Hier verkehrte Lenin, bis er nach Rußland abreiste. Später speiste hier unter italienischen Arbeitern auch Mussolini: als Sozialist. Ein Bildnis von Mateotti, den der faschistische Mussolini ermorden ließ, und über der braunen Täfelung an der verrauchten Wand ein frisches Plakat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz; der Text liest sich wie eine Selbstverständlichkeit, die allerdings noch immer nicht verwirklicht ist. Eine juke-box zeigt an, daß wir uns in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts befinden, und die jungen Männer tragen wieder Bärte. Über der juke-box in glänzendem Rahmen das verblichene Foto-Porträt von dem bärtigen Urahn: CARLO MARX. Arbeiter essen an den langen Tischen mit weißem Tischtuch, bedient von Kellnern in weißen Kitteln. Die Kost ist italienisch. Hier wurden damals antifaschistische Zeitungen redigiert, die man nach Italien schmuggelte. Wir trinken ein Bier unter der verrauchten Büste von Dante. Ein familiäres Lokal, dabei ein hoher Raum, ein Ort historischer Hoffnungen –
Verhör IV
A.
Einmal angenommen: eine Gruppe von Leuten, die sich auf die Handhabung von Waffen verstehen, besetzen die Fabriken in Oerlikon und drohen mit Sprengung der Anlagen des Bührle-Konzerns, falls das Geschäft mit dem Krieg nicht verboten wird – was würdest
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