Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sind Sie nicht versichert?
19.
Wenn es nur noch das Eigentum gäbe an Dingen, die Sie verbrauchen, aber kein Eigentum, das Macht gibt über andere: möchten Sie unter solchen Umständen noch leben?
20.
Wieviele Arbeitskräfte gehören Ihnen?
21.
Wieso?
22.
Leiden Sie manchmal unter der Verantwortung des Eigentümers, die Sie nicht den andern überlassen können, ohne Ihr Eigentum zu gefährden, oder ist es die Verantwortung, die Sie glücklich macht?
23.
Was gefällt Ihnen am Neuen Testament?
24.
Da zwar ein Recht auf Eigentum besteht, aber erst in Kraft tritt, wenn Eigentum vorhanden ist: könnten Sie es irgendwie verstehen, wenn die Mehrheit Ihrer Landsleute, um ihr Recht in Kraft zu setzen, Sie eines Tages enteignen würde?
25.
Und warum nicht?
YALE UNIVERSITÄT, 5. 5. 71
Ohne Fernsehen im Hotel befände man sich in einem Idyll mit gotischer Architektur. Gang durch Buchläden; alles zu haben: Georg Lukács zum Beispiel, Germaine Greer (THE FEMALE EUNUCH), Beckett, Solschenizyn, Borges, James Baldwin, Freud, Hermann Hesse, Fanon usw. Es ist ein Land der Denkfreiheit … Im Fernsehen: wieder eine Antikrieg-Demonstration in Washington. Keine Gewalttätigkeiten; nur blockieren sie, die Andersdenkenden, den Zugang zum Kongreß und zum Justiz-Palast, worauf die Ordnungskräfte (Polizei, Nationalgarde, Fallschirmtruppen) weiter verhaften: »without making specific individual charges of wrongdoing«. Eine Hochzeitsgesellschaft, zum Beispiel, kommt auch in das Massenlager, sie feiern da ihre Hochzeit. Seit vier Tagen insgesamt 12.700 Verhaftungen.
This morning, immediately after the Swiss National Bank gave up its attempt to maintain the standard exchange of 4.2950 francs to the dollar, Swissair announced that it would not longer sell tickets for dollars … The central banks of Switzerland, the Netherlands, Belgium and Austria followed suit. They had been deluged with so many dollars that they could no longer absorb them under present conditions. In accepting the surplus dollars up to today, the Europeans, in effect, had been helping the United States finance the war in Vietnam and helping American companies buy European industries.
THE NEW YORK TIMES, 5. 5. 71
Brownsville
Leute wohnen hinter Pappe, die die eingestürzte Hauswand ersetzt, ringsum Trümmer, Schutt, Tümpel usw., Gewimmelvon schwarzen Kindern auf dem Schutt oder in einem Fenster mit Fliegengitter. Man kennt es von Foto-Büchern. Was heißt Slum? Da sind bürgerliche Fassaden (Brownstone) wie in einer Menschenstadt, einmal sogar eine Allee; da und dort eine öffentliche Schule, Spielplätze mit Gerät beispielsweise für Korbball; am Horizont sieht man Manhattan. Ehedem ein Bezirk jüdischen Mittelstands; Orthodoxe aus dem Osten, die ausgezogen sind, aber es gehören ihnen noch die Häuser, die Läden, der Boden, der durch die Armut der Schwarzen entwertet ist. Der Entwertung folgt der Zerfall. Es gibt Ruinen, die keinen Eigentümer mehr haben, so wertlos sind sie. Die Synagogen sind vermietet für andere Zwecke. Nur die Schwarzen, die ein Einkommen finden, können die Häuser instand halten; das sind wenige. Geblieben ist das JEWISH BROOKLYN HOSPITAL für 90 000 verwahrloste Einwohner, COMPREHENSIVE APPROACH TO CHILD HEALTH , eine gute Sache, ein tapferes Unternehmen – man kann nur nicken; ich weiß nicht, wo ich all dies schon gesehen habe, jeweils geführt von einer weißen Ärztin oder einem Arzt, denen ich in Hochachtung folge – 4000 Kinder werden hier betreut; eins ist gerade im Spielzeugzimmer zu sehen, ein Junge mit Kruselhaar und den großen Augen, der zu der blonden Ärztin, wie ich sehe, Zutrauen hat. Im Korridor lerne ich etwas Sozial-Pathologie: Bevölkerung ohne Identität, Alkoholismus, Elend weniger durch Hunger als durch Verwilderung, Arbeitslosigkeit, da keine Ausbildungsmöglichkeiten bestehen, Zerfall der Familie, Analphabetismus usw., und was man hier zu behandeln sich bemüht: die mentalen Schäden der Armut. Ich merke mir: FEDERAL PROGRAM , begründet mit Bundesgeldern, dann sollen die einzelnen Staaten es weiterführen; aber New York hat dafür keine Mittel; Ungewißheit, ob das Unternehmen im nächsten Jahr fortgeführt werden kann … Es fehlt in der Gegend nicht an Kirchen: ALL ARE WELCOME ,ohne Kirchen-Architektur; meistens erkennt man sie nur an einem Kreuz. Auch gibt es Ansätze zu Wohnungsbau, der scheinbar die Lage der hoffnungslosen Klasse verbessert.
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