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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Usw.
    Er danke für diese einleitenden Worte, sagt der Vorsitzende, und eröffne die Diskussion, wobei die Herren vorerst um grundsätzliche Meinungen gebeten werden; die Statuten der Vereinigung stehen heute noch nicht zur Diskussion.
    Schweigen.
    Sie trinken.
    Kurkapelle draußen.
    Da geschwiegen wird – nur der alte Hanselmann, Senior der bekannten Import-Firma HANSELMANN & SÖHNE , möchte wissen, wie die Vereinigung sich nennen soll; ich schlage vor: VEREINIGUNG FREITOD (der Gegenvorschlag des Malers, der sich für witzig hält, seit ihn niemand mehr ernst nimmt, findet keine Zustimmung: HARAKIRI-CLUB , es erinnert an ROTARY-CLUB .) – da also zur Sache selbst geschwiegen wird, erläutert der Vorsitzende, wie der Antrag zu verstehen ist: die Vereinigung soll zur Verjüngung der abendländischen Gesellschaft beitragen, indem sie die neue Idee, Freitod als Pflicht, nicht nur durch Worte vertritt, sondern durch Vorbild, d.h. daß die Mitglieder sich verpflichten, ihrerseits das Postulat zu erfüllen zu gegebener Zeit.
    Schweigen.
    Wem, fragt der Vorsitzende, darf ich das Wort geben – oder möchten die Herren eine kleine Pause machen?
    Nachtrag meinerseits:
    die Vereinigung wäre international, offen für jedermann über 50, politisch wie konfessionell nicht gebunden; die Mitglieder treffen sich ein bis zwei Mal im Jahr, um einander auf ihre Alterserscheinungen aufmerksam zu machen; ein Mitglied, das sich der Überalterung schuldig macht, wird ausgeschlossen; dazu dient jeweils die Jahresversammlung, die mit einer Reihevon Prüfungen verbunden ist, Gedächtnis-Test usw.; die Jahresversammlung ehrt jeweils die Mitglieder, die im Lauf des vergangenen Jahres aus eignem Entschluß auf ein weiteres Altern verzichtet haben usw.
     
     
    UNTERWEGS
     
    Wenn es keine Kioske gäbe, wo man täglich den großen Überblick kaufen kann, ich weiß es wirklich nicht, wie unsereiner sich diese Welt vorstellen würde. Unsereiner sieht kaum um die nächste Ecke, hört um zwei oder drei Ecken und ist schon betroffen, verwirrt, bestürzt oder auch gleichmütig, vor allem aber ohne Überblick. Die Lektüre erstklassiger Zeitungen erleichtert mich immer. Sie wissen einfach mehr. Mag es noch so entsetzlich sein, was die Fernschreiber wieder melden: es erleichtert mich, was die Editoren dazu schreiben, ihre gekonnte Besonnenheit, die jeden Einzelfall, sofern er überhaupt hat erwähnt werden müssen, in den großen Zusammenhang stellt. Wie naiv war wieder meine Anteilnahme, meine Zuversicht oder meine Sorge, mein Zorn, meine Ratlosigkeit. Meistens überschätze ich die Vorkommnisse. Sie denken weiter als unsereiner, das spürt man, je frischer das Papier ist. Wer liest schon vergilbte Zeitungen? Etliches ist langweilig, und man überschlägt es; aber es zeigt; die erstklassigen Zeitungen gehen nicht auf Sensationen; sie melden, was ist, wie es ist, ob langweilig oder nicht. Sie sind gewissenhaft. Man ist immer ein wenig beschämt, wie zufällig sich unsereiner um die Welt kümmert. Vor allem aber: unsereiner verfällt immer in Meinungen, die persönlich bleiben. Zum Beispiel beim Staatsstreich damalsin Athen meinte ich sofort, die USA habe ihre Hände im Spiel, und konnte es nicht belegen. Die erstklassigen Zeitungen hingegen, die diesen Namen verdienen, bleiben objektiv. Sie sind nicht nur durch Fernschreiber besser unterrichtet, sondern verfügen über ein Denken, das über den bloßen Meinungen steht oder schwebt. Etwas Überpersönliches, ob mit Namen unterzeichnet oder nicht, kommt auf uns zu; etwas wie Weltgeist, der sich durch die Fakten vom Tage, sofern sie stimmen, Tag für Tag bestätigt findet. Trifft man zufällig (zum Beispiel in einem T. E. E.) den Mann, der das und das geschrieben hat, so ist man nicht enttäuscht; er weiß noch mehr, als er geschrieben hat, sogar sehr viel mehr. Meistens ist er auch persönlich davon überzeugt, d.h. er spricht unter vier Augen nicht sehr viel anders. Nur hat er jetzt eine Physiognomie, meinetwegen eine gute; er kann nichts dafür, daß ich, Leser erstklassiger Zeitungen, beinahe etwas Unsinniges geglaubt habe: ihre Sicht, im Gegensatz zu der unsern, sei unabhängig von aller Person. Ich gebe zu, daß ich nicht so unabhängig denke, so unabhängig sehe. Sonst ginge unsereiner nicht immer wieder an die Kioske. Sie können sich verlassen auf unsere Neugier, unser lebhaftes Vergessen, unsere Anteilnahme nach ihrem Ermessen.

Vereinigung Freitod
    Natürlich kann der Freitod eines

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