Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
die der Reichtum ihnen verleiht, für einen Beweis, daß die Gesellschaft sie brauche. Ein alter Kellner, der entlassen wird, weil er zittert beim Bedienen, kann diesem Irrtum kaum verfallen.
Vereinigung Freitod
Gestern die erste Jahresversammlung.
Ansprache von Alt-Regierungsrat Huber. Er hat noch immer nicht begriffen. Seine Forderung: Verständnis für die Jugend. Kein Gedanke daran, daß die Jugend unser Verständnis überhaupt nicht brauchen würde, wenn wir nicht immer noch dasäßen. Es war langweilig: Alt-Regierungsrat Huber mit seinem Hör-Apparat hinter dem Ohr, draußen die Kur-Kapelle. Die Prüfungen wurden von allen Mitgliedern bestanden. Sonntags gemeinsame Fahrt mit der Seilbahn in die Höhe, dann Spaziergang hinunter nach Fetan, dort Imbiß.
Jahresbericht:
– – –
Die Zahl der Vollmitglieder beträgt nach wie vor 8. Der Schauspieler hat sich entschuldigen lassen, filmt gerade in Jugoslawien; auch ein anderes Vollmitglied, Dr. J. Hauri, hat bedauert, daß er sich gerade auf einer Weltreise befindet. Die im Jahresbericht als besonders erfreulich bezeichnete Zahl der Anwärter darf nicht täuschen; es hat sich herausgestellt, daß es im Restaurant Kronenhalle jemand kurz vor Polizei-Stunde gelungen ist, ganze Tischgesellschaften zur Unterschrift zu überreden. Nicht wenige, die tatsächlich nach Vulpera gekommen sind, haben sich offenbar über den Ernst unsrer Vereinigung gewundert. Übrigens sieht man nicht immer ohne weiteres, wer Anwärter und wer Vollmitglied ist. Auch Anwärter erscheinen morgens in der Trinkhalle, stehen herum mit einem numerierten Glas und nippen laues Schwefelwasser, wobei sie sich den Anschein geben, daß sie's nicht nötig haben; die meisten Anwärter sind einfach zu dick. Immerhin spielen sie nachher Tennis. Ich nur noch Pingpong. Leider steht im Jahresbericht nicht, daß im Lauf des Jahres insgesamt 11 Anwärter kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag, der sie zu Vollmitgliedern gemacht hätte, ihren Austritt erklärt haben; 9 davon mit der Begründung: Familie. (Einer von diesen ist kurz darauf bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.)
– – –
Erfahrungen aus der ersten Jahresversammlung.
1.
Das Prüfungsverfahren muß geändert werden. Ein unerwartetes Phänomen: Greisen-Schlagfertigkeit. Wer einmal über 60 ist, hat es gelernt, Fragen zu beantworten mit treffenden Antworten auf Fragen, die nicht gestellt sind; so entsteht der Eindruck geistiger Regsamkeit.
2.
Die Mitglieder befreunden sich. Wie läßt sich das verhindern? Der Export-Senior und der Kristall-Sammler und mein Zahnarzt, dessen Patent in unserem Kreis ohne Konkurrenz ist, haben keinerlei Anlaß, einander nicht zu schätzen; zudem stellt sich heraus, daß alle unsere Mitglieder (außer mir) Offiziere gewesen sind, Unterschiede nur nach Grad und Waffengattung, was zu Kontroversen nicht ausreicht, im Gegenteil, es fördert die Stammtisch-Plauderei eidgenössischer Prägung. Sobald wir einander schätzen lernen, weil es eben zu keinen Interesse-Konflikten kommt, lügen wir auf Gegenseitigkeit.
3.
Mitglieder, die ohne ihre Frauen erscheinen, sind im Vorteil. (Zwar sind Frauen zu den Sitzungen nicht zugelassen, aber zuSpaziergängen und Mahlzeiten.) Junggesellen oder Witwer werden nicht auf Schritt und Tritt betreut: Hast du dein Halstuch? und wenn ihnen wieder Asche auf den Bauch fällt, putzt sie niemand; sie wirken dadurch selbständig, lebenstüchtig. Die andern hingegen, die mit ihren Frauen kommen, fühlen sich immer durchschaut, sobald sie jünger auftreten, als sie sind. Anderseits sieht man, wie sehr die Betreuerinnen natürlich ihre Männer brauchen. Es entsteht Mitleid mit den Frauen oder auch die Versuchung, Männer vor ihren Gattinnen in Schutz zu nehmen. Beides erschwert ein sachliches Urteil. Ohne Frauen wäre es besser.
4.
Mahlzeiten lösen Disziplin auf.
5.
Betreffend Handbuch der Senilität: ich bitte erneut um schriftliche Beiträge, aber alle tun, als hätten sie aus eigner Erfahrung nichts zu berichten.
ZÜRICH
In der großen Bibliothek von Konrad Farner hängt die Totenmaske von Brecht. Die zu schiefe Nase; man kann ihn nur unter einem einzigen Gesichtswinkel wieder erkennen. Vom Profil her könnte man, einen Augenblick lang, auf Friedrich Schiller raten. Sein irritierendes Lächeln im Tod, nicht Grinsen, ein scharfes Lächeln mit einem generösen Spott ohne Adresse. Die Augen geschlossen in seinen tiefen
Weitere Kostenlose Bücher