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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Mitglieds nicht verlangt werden. Die Jahresversammlung kann lediglich feststellen, wer, wenn er weiterlebt, gegen die Satzungen verstößt. Zweidrittelmehrheit in geheimer Abstimmung. Ein Mitglied, dastrotzdem weiterlebt, ist aus der Mitgliedschaft entlassen; die Vereinigung spricht ihr Mitleid aus. Sollte ein Mitglied sich durch die Zweidrittelmehrheit ungerecht beurteilt fühlen, so kommt es zum Einspruchverfahren: das Mitglied hat sich einer zusätzlichen Prüfung zu unterziehen, beispielsweise eine Rede zu halten, Thema nach eigner Wahl, wobei es nicht auf Redner-Fertigkeit ankommt, die gerade bei Greisen oft vorhanden ist, sondern auf Fähigkeit oder Unfähigkeit, ein Problem anders zu sehen als gestern, die eignen Antworten von gestern in Frage zu stellen. Ein Marxist, zum Beispiel, kann noch so sattelfest sein im klassischen Marxismus-Leninismus: wenn in seiner Rede auch nicht ansatzweise ein Gedanke auftaucht, den er bisher für undenkbar gehalten hat, gilt er als Greis.
    Jahresversammlung:
    vorgesehen sind Wanderungen, ferner Saufgelage, wichtig für die Bewertung vor allem ist der Zustand am andern Tag, der wiederum mit kürzeren Wanderungen beginnt, anschließend Diskussion, Prüfung der Schlagfertigkeit usw., ferner eine schriftliche Prüfung, um festzustellen, ob die Mitglieder noch imstand sind sich in der jeweils heutigen Sprache auszudrücken. (Ein Katalog der Vokabeln, die als überholt zu bezeichnen sind, wird von Jahr zu Jahr nachgeführt werden müssen; auch Vokabeln wie: Lernprozeß, transportieren, Konsensus, polarisieren, denunzieren, Modell, manipulieren, Effizienz, ritualisieren, elitär, Relevanz usw. können eines Tages in diesen Katalog gehören.) Abends geselliges Zusammensein, das auf Tonband aufgenommen wird: wer mehr als dreimal dieselbe Jugenderinnerung erzählt, wird vorgemerkt.
    Antrag:
    daß neben Vollmitgliedern (Leute über 50) Anwärter aufgenommen werden sollen, Leute unter 50, die noch keine Prüfungen zu bestehen haben, aber an den Diskussionen teilnehmenund zu den Abstimmungen herangezogen werden; dadurch soll verhindert werden, daß die Vollmitglieder, ohne es selber zu bemerken, von Jahr zu Jahr, indem sie eben älter werden, immer mildere Maßstäbe anwenden.
    Antrag gebilligt.
    Gebisse sowie gefärbtes Haar sind erlaubt, sogar künstliches Haar. Die äußere Erscheinung (»Sie sehen ja fabelhaft aus!«) hat auf die Bewertung keinen Einfluß. Kommt ein Mitglied plötzlich mit einer Krücke, so wird es deswegen nicht vorgemerkt; Bandscheiben-Leiden sind zugelassen, sie besagen nichts über die geistig-seelische Vitalität eines Mitglieds, so wenig wie eine Glatze. Auch eine Trinker-Nase wird in der Wertung nicht berücksichtigt. Anderseits läßt sich die Jahresversammlung, wie erwähnt, von einem gesunden Aussehen nicht täuschen, das durch Kur-Aufenthalte oder durch Arbeit im Garten zu erreichen ist; auch ein vergleichsweise schlankes und sonnengebräuntes Mitglied im Ski-Dreß oder Tennis-Dreß (»Sport-Gaga«) hat sich den Prüfungen zu unterziehen. Maßgebend für die Wertung: Bestand oder Schwund der kombinatorischen Fähigkeit, Ansprechbarkeit, Fähigkeit zu neuen Erfahrungen, Bereitschaft zur Diskussion ohne Berufung auf vergangene Leistungen, vor allem aber Spontaneität, die jeweils durch Happenings auf die Probe gestellt wird.
    Antrag:
    daß jedes Mitglied in der Jahresversammlung berichten soll, was es im Lauf des Jahres noch beruflich zustande gebracht hat: Erweiterung des Betriebes, Umstellung auf Automation, Gründung von Filialen, in intellektuellen oder künstlerischen Berufen: Übernahme eines Rektorats, Übernahme einer Intendanz usw.
    Der Antrag ist abgelehnt.
    (Es bestünde die Gefahr eines falschen Ansporns für die Mitglieder; Emsigkeit, die sich als Jugendlichkeit ausgibt. Ziel derVereinigung kann es aber nicht sein, die Emsigkeit der alten Herren zu steigern; gerade diese führt ja zur Vergreisung unsrer Gesellschaft. Man denke an Wirtschaft, Hochschulen, Staatsführung, Vatikan sowie Generalstäbe.)
    PS.
    Da ich unter den sieben Vollmitgliedern der einzige Berufsschreiber bin, habe ich den Auftrag erhalten, ein Verzeichnis von Alterserscheinungen anzulegen zuhanden der ersten Jahresversammlung, ein Verzeichnis nicht von körperlichen Beschwerden, denen man medizinisch beikommt, sondern von intellektuellen und emotionalen Symptomen der Senilität. Eine Art Handbuch, das nicht in den Buchhandel kommt, nur für Mitglieder.
     
     
    Venedig,

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