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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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laß uns nicht verkalken. Abends in der großen Halle: Reeder aus Hamburg, Diplomaten in Urlaub, Direktoren, Fabrikanten, Professoren, alle noch im Einsatz. Die Kapelle spielt zum Tanz, Kellner verkürzen ihren Weg über die leere Tanzfläche. Herren kommen in die Halle mit einem Buch in der Hand, Memoiren von Konrad Adenauer. Jung sind nur die italienischen Kellner. Krank sieht eigentlich niemand aus; Gesundheit scheint käuflich zu sein. Alle von der Sonne gebräunt. Im Bridge-Salon ist man allein. Alle Herren in dunklen Anzügen, Damen mit Juwelen; wartend vor dem Lift studieren sie den Diät-Zettel für morgen.
     
     
    Im Kurhaus wissen sie natürlich nicht, was für ein Club das ist, der aufs Wochenende hundert Betten bestellt hat. Die Direktion, zuvorkommend wie immer und besonders zuvorkommend gegen Ende der Saison (in der Höhe hat es schon geschneit), entschuldigt sich nochmals, daß nur noch ein einziger Masseur am Platz ist –
    Treffpunkt: Bridge-Salon.
    Heute vormittags in der Trinkhalle habe ich versucht, weitere Mitglieder zu werben. Dabei muß man natürlich vorsichtig sein; sonst erschrecken die Leute. Eine Vereinigung, so sage ich, zur Verjüngung der abendländischen Gesellschaft. Darüber läßt sich reden mit ihnen. Verjüngung; dann meint jedermann, daß er verjüngt werde. Alt-Regierungsrat Huber, zum elften Mal hier in der Kur, wird an der Konferenz teilnehmen; er ist nicht mehr im Amt, aber immer bereit für Konferenzen, bekannt als zäher Vermittler. Ein andrer, den ich in der Trinkhalle angesprochen habe, ein berühmter Pianist, hat abgesagt wegen ärztlich verordneter Liegekur. Ich mache mirkeine Illusionen: nicht alle, die zur Konferenz kommen, werden sich als Mitglieder eintragen, wenn sie am Nachmittag hören, wie die Verjüngung der abendländischen Gesellschaft gemeint ist. Das wissen im Augenblick erst der Vorsitzende und ich.
     
    Bis zum Mittagessen sind erst 6 Herren erschienen. Sie unterscheiden sich nicht von den andern Kurgästen. 4 etwas fettleibig, 3 mit Glatze, 5 scheinbar ohne Prothese; niemand würde sagen oder auch nur denken: Greise. Nur einer von ihnen hält sich, wenn er die Treppe herunter kommt, am Geländer.
    Denke ich an das Manuskript in meiner Tasche, so werde ich unsicher, ob die Prämisse (»Wir alle, meine Herren, kennen die Symptome der Vergreisung an uns selbst.«) richtig ist. Wenn ich die Herren so in der Halle sehe: gesetzt, vielleicht von der Reise etwas ermattet, gelassen, einer etwas schwermütig, aber nicht unwitzig, alle keine Jünglinge, sie sitzen mit gespreizten Beinen und tragen vermutlich Hosenträger unter der Weste, Männer mit Erinnerungen (»damals während der Grenzbesetzung«) und mit Erfahrungen (»seit vierzig Jahren rauche ich Pfeife«), aber alle noch auf dem Laufenden (»haben Sie heute im Morgenblatt gelesen?«) … es wird schwierig zu sagen: Meine Herren, es geht ohne uns!
     
    M., ehedem ein geschätzter Maler, kommt mit seiner letzten Braut, und ich habe ihm zu sagen, daß das nicht geht. (Warum nicht, das wird noch zu begründen sein; im Augenblick weiß ich bloß: Frauen sind von der Vereinigung auszuschließen auch als Mitwisser.) Der Hotel-Concierge bemüht sich, zeigt ihr auf einer Karte die bequemen Ausflüge, Seilbahn nach Naluns; zum Glück hat sie in ihrem Leben noch nie ein Murmeltier gesehen und verspricht sich etwas davon.
     
    Verlegenheit der immer noch kleinen Schar, die sich im Bridge-Salon zusammenfindet; man setzt sich nicht, hofft, daß die andern Herren sich verirrt haben könnten in diesem grandiosen Kurhaus. Anfrage beim Concierge, ob vielleicht zwei Bridge-Salons. (Um pünktliches Erscheinen wurde schriftlich gebeten.) Auskunft vom Concierge: nur ein einziger Bridge-Salon. Ich schlage eine andere Hoffnung vor: vielleicht Verwechslung von Kurhaus und Waldhaus, man müßte drüben im Waldhaus anrufen. Ich meine: drüben im Kurhaus. Jetzt verwechsle ich auch schon … Vielleicht war unsere Einladung nicht glücklich formuliert. Vielleicht zu undeutlich, um Interesse zu wecken, oder zu deutlich; eine offene Einladung zum Freitod war es indessen nicht. Daß so viele, die ausbleiben, nicht einmal abgesagt haben, ist bedauerlich; unsere Schar bekommt dadurch das Gefühl, von der Welt nicht ganz ernstgenommen zu werden. Ob man nicht trotzdem anfangen sollte? Ich wäre dafür. Der Vorsitzende, übrigens mein Zahnarzt und der eigentliche Anreger (»Wenn ich eines Tages merke, daß ich senil werde usw.«) möchte

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