Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
1967
Nachbarn, die zum Einkaufen unten in Locarno gewesen sind, bringen die Nachricht: Krieg in Israel. Radio bestätigt. Angst um Freunde, alles Arbeiten sinnlos, Ohnmacht. Die Meldungen im Lauf des Vormittags sind vage, aber es bleibt: KRIEG. Unfähig zu einem Urteil. Die bekannten Drohungen von Nasser, dann die Sperrung des Golfs von Akaba, dann der Aufmarsch auf Sinai. Wer ist Aggressor? In der Zeitung: das zahlenmäßige Verhältnis der beiden Armeen.
10. 6.
Warten auf Waffenstillstand. Die Gefahr, daß die Weltmächte eingreifen, vor allem die Sowjetunion, die auf der arabischen Seite investiert hat; die Länder der Öl-Scheichs als sozialistische Länder. Es stimmt alles nicht. Front-Berichte, Front-Karten, Fotos, die erschrecken: alles so selbstverständlich. Die im Sand liegen, sind tot; die ihre Hände hochhalten, sind gefangen; die Bewacher, Gewehr umgehängt, sind keine Berserker, nur junge Menschen mit Helm. Der Anblick zerstörter Tanks befriedigt mich immer. Israel dringt weiter nach Jordanien und Syrien. Die prekäre Grenze. Erinnerungen an die Höhenzüge dort –
16. 6.
Diskussionen. Denkt Israel jetzt an territoriale Expansion? Jubel aus der Bundesrepublikvon halbrechts: Lösung durch Blitzkrieg. Auch hier gibt es Leute, die jetzt die Sache für gelöst halten.
25. 6.
Brief aus dem Kibbuz Hazorea. Es fragt sich, wieviele Stimmen dieser Art es gibt; immerhin gibt es sie: Wir leben, auch unser Sohn, der im Sinai ist, aber bitte denken Sie nicht, daß wir hier feiern.
26. 6.
Metamorphose des Antisemitismus? – in der einhelligen Parteinahme für Israel; dafür versetzt man die Araber in die Kategorie von Untermenschen.
Zum Stück
Die einzige Realität auf der Bühne besteht darin, daß auf der Bühne gespielt wird. Spiel gestattet, was das Leben nicht gestattet: daß wir die Kontinuität der Zeit aufheben; daß wir gleichzeitig an verschiedenen Orten sein können; daß sich eine Handlung unterbrechen läßt (Song, Chor, Kommentar usw.) und erst weiterläuft, wenn wir ihre Ursache und ihre möglichen Folgen begriffen haben; daß wir eliminieren, was nur Repetition ist usw. In der Realität können wir einen Fehler, der stattgefunden hat, zwar wiedergutmachen durch eine spätere Tat, aber wir können ihn nicht tilgen, nicht ungeschehen machen; wir können für ein vergangenes Datum kein anderes Verhalten wählen. Leben ist geschichtlich, in jedem Augenblick definitiv, es duldet keine Variante. Das Spiel gestattet sie. Flucht aus der Realität? – das Theater reflektiert sie; es imitiert sie nicht. Nichts widersinniger als Imitation von Realität, nichtsüberflüssiger; Realität gibt's genug. Das Imitier-Theater (die Etikette stammt meines Wissens von Martin Walser) mißversteht das Theater; es gibt Regisseure, die es meisterhaft pflegen: Theater, das den Zuschauer in die Position des Voyeurs versetzt und in dieser Position betrügt; ich muß, um in die Position des Voyeurs zu kommen, mein Bewußtsein ausschalten und vergessen, daß da vorne ja gespielt wird, und wenn mir das nicht gelingt, ist es doppelt peinlich. Das ursprüngliche Theater (mit Kothurn, Maske, Vers usw.) war natürlich kein Imitier-Theater; der antike Zuschauer blieb sich bewußt, daß im Ensemble keine Götter engagiert sind … Brecht kultivierte gegen das Imitier-Theater die gezielte Verfremdungs-Geste des Darstellers, das bekannte Inventar mit Songs und Beschriftung usw. Friedrich Dürrenmatt setzt die Groteske dagegen, Samuel Beckett die radikale Reduktion, Martin Walser spricht dringlich von einem Bewußtseins-Theater, und das heißt: Darstellung nicht der Welt, sondern unseres Bewußtseins von ihr. Wie immer die Etikette jeweils lautet: gesucht und auf verschiedene Weise auch gefunden ist Theater, das nicht Realität abzubilden vorgibt (das tut nur eine gewisse Art von Schauspieler-Kunst; Sache der Stückeschreiber ist es, ein Imitier-Theater schon dramaturgisch auszuschließen) –
VULPERA-TARASP
Alle mit dem numerierten Glas in der Hand, SANKT BONIFACIUS, hilf uns, daß wir nicht altern, SANKT LUCIUS, vergib uns unsere Jahre. Eine halbe Stunde später, nach einem besonnenen Spaziergang zum Kurhaus zurück, erfolgt bei allen Stuhlgang, dann Frühstück, Diät je nach Fall. Im Lauf des Tages eine Massage, Blick auf die Waage, nachmittags Spaziergang auf säuberlichen Wegen durch Wald, Ozon,bis es wieder Zeit ist für die Trinkhalle, SANKT BONIFACIUS, sieh unsere Askese, SANKT LUCIUS,
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