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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Oktober
     
    Diesmal ist der Markus-Platz nicht überschwemmt, die Tauben versehen ihren Dienst, die schwarzen Gondeln auch, aber neuerdings torkeln sie im Wellenwurf der Motorboote; das nimmt ihnen etwas von ihrer Würde … Friedrich Dürrenmatt auf Reisen: es scheint ihn überhaupt nicht zu stören, daß wir in Venedig sind, seine Einfälle sind metaphysisch und haben nichts mit dem Ort zu tun.
     
     
    Interview-Antwort
     
    Wenn wir einem Biologen zuhören, kann uns die Literatur allerdings überflüssig erscheinen, nicht die Musik, aber ein beträchtlicher Teil der Literatur. Die Musiker haben sich nie eine Funktion aufschwatzen lassen, die sie in Konkurrenz bringt mit Biologie, Soziologie, Physik usw.; auch die Maler und Plastiker sind selten angetreten als Verkünder, die mehr verkünden als Kunst … Zuständigkeit der Literatur? Die Erkenntnis-Vorstöße unseres Jahrhunderts verdanken wir nicht der Literatur. Wer von der Literatur erwartet, daß sie das Weltbild bestimme, wird also von einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl nicht verschont bleiben. Zwar spiegelt die Literatur, die ihren Namen verdient, die Verwandlungen unseres Bewußtseins, aber sie spiegelt sie nur; die Anstöße zur Verwandlung des Weltbildes kommen anderswoher. Erübrigt sich somit die Literatur? Zuweilen kann man sich fragen, ob es nicht dieses Minderwertigkeitsgefühl ist, was zum sogenannten Engagement nötigt. Keiner von uns läßt sich gerne sagen, er wohne im Elfenbeinturm. Das nötigt auch Schriftsteller, die im Grund kein politisches Temperament haben, zu dem Postulat, Literatur müsse eine gesellschaftliche Funktion haben. Das ist Selbstrechtfertigung. Auch wenn die Gesellschaft gar nicht überzeugt ist, daß sie unser Engagement braucht, wir brauchen's. Der Biologe, dem ich zuhöre, spricht nicht von Engagement; er kommt mit Entdeckungen … Sie sagen, manche Schriftsteller halten die Literatur gerade in politischen Dingen für untauglich und bevorzugen die direkte Aktion, wenn sie ein politisches Ziel verfolgen. Ich denke: zu Recht. Das geht zugunsten der Politik und zugunsten der Literatur. Das andere ist manchmal nicht ohne Komik; das literarische Werk gibt keine Autorität auf einem Gebiet, wo einer sich nicht ausgewiesen hat. Daß dieser oder jener Schriftsteller intelligenter ist als dieser oder jener Minister, halte ich für möglich, aber das heißt noch nicht, daß er deswegen ein Politiker ist. Es gibt den politischen Schriftsteller, aber häufiger gibt es den politisierenden Schriftsteller … Domäne der Literatur? Fast wage ich zu sagen: das Private. Was die Soziologie nicht erfaßt, was die Biologie nicht erfaßt: das Einzelwesen, das Ich, nicht mein Ich, aber ein Ich: die Person, die diese Welt erfährt als Ich, die stirbt als Ich, die Person in allen ihren biologischen und gesellschaftlichen Bedingtheiten – das ist es, was mir darstellenswert erscheint: die Person, die in der Statistik enthalten ist, aber darin nicht zur Sprache kommt und im Hinblick aufs Ganze irrelevant ist, aber zu leben hat mit dem Bewußtsein, daß sie irrelevant ist. Domäne der Literatur: alles was Menschen erleben, Geschlecht, Technik, Politik, aber im Gegensatz zur Wissenschaft bezogen auf das Wesen, das erlebt.
     
     
    25. 10. 1967
    Unfall auf der Strecke zwischen Cadenazzo und Giubiasco. Wenn die beiden Wagen neben der Straße liegen und beide Fahrer noch leben: Glück, aber so öffentlich –

Vereinigung Freitod
    Laut Statistik ist die Überalterung größer bei Reichen als bei Armen. Die Gründe liegen auf der Hand. Folge dieses Tatbestandes: Vergreisung vor allem in den Positionen der Macht. Der Einwand gegen unsere Vereinigung, daß sie hauptsächlich aus wohlhabenden Leuten besteht, ist daher nicht stichhaltig. Ein alter Handlanger, angewiesen auf die Altersversicherung, hat nicht die Macht, der Gesellschaft sein verkalktes Denken aufzuzwingen; ein verkalkter Verwaltungsrat oder Richter ist schädlicher. Ich begrüße es, daß unsere Mitglieder (inzwischen 8) der wohlhabenden Schicht angehören; diese ist der Versuchung, in einem widernatürlichen Grad sich zu erhalten,mehr ausgesetzt als der Arbeiter, nicht nur weil sie die wirtschaftlichen Mittel hat, Altersbeschwerden lang zu mildern (Ferien nach Bedarf, Bedienung nach Bedarf, Seebäder, Behandlung durch medizinische Kapazitäten, Arbeit nach eigner Wahl, Komfort im Wohnen, Unterwasser-Massage, Diät ohne Rücksicht auf Kosten), sondern vor allem: sie halten die Macht,

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