Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
unbedingt einen nächsten Bus abwarten. Inzwischen Auskunft vom Kurhaus oder Waldhaus: Niemand im Bridge-Salon dort. Ich bin dafür, daß wir uns setzen.
16.00, draußen beginnt die Kurkapelle.
Die Hoffnung auf den nächsten Bus, der vom Bahnhof zu den Kurhäusern fährt, ist gering; es kommt um diese Zeit kein Zug an. Ich verstehe meinen Zahnarzt nicht; hofft er auf einen Sonderzug? Alt-Regierungsrat Huber wiederholt (wir haben es schon vormittags in der Trinkhalle gehört) seine Anpreisung der Unterwasser-Massage, man fühle sich wie neugeboren, jedesmal wie neugeboren. Ein strammer Siebziger.
Die kleinen Bridge-Tische mit grünem Filz sind aufgereiht zu einem Langen Tisch, Stühle für hundert Teilnehmer; es habenPlatz genommen: 11 Herren. Man hat nicht mit einem Ostermarsch gerechnet, immerhin eine gewisse Enttäuschung ist nicht zu verhehlen, auch wenn man sich sagt, daß geschichtliche Umwälzungen oft von kleinen Gruppen ausgegangen sind … Meine Herren, sagt der Vorsitzende, ich eröffne – mit Bedauern stelle ich fest – trotzdem muß etwas geschehen: denn die Überalterung unsrer heutigen Gesellschaft –
Ein Kellner unterbricht.
Als einer nach dem andern nur Mineralwasser bestellt, als wären wir eine Diät-Sekte, bestelle ich Veltliner. Drei bestellen Kaffee, davon zwei Kaffee Hag. Nur Alt-Regierungsrat Huber, sonst nicht immer mein Freund, bestellt ebenfalls Veltliner.
Also: –
aber der Vorsitzende wartet, bis der junge Kellner endlich die Türe geschlossen hat. Daß draußen die Kurkapelle spielt, ist nicht zu ändern. Gegenüber wird Tennis gespielt. Ich zünde eine Zigarre an, Monte Cristo, um locker zu sein, wenn mir das Wort erteilt wird.
Die Idee: –
aber zuerst verlese ich die Statistik, gefaßt auf Einwände gegen Statistik überhaupt: die Säuglingssterblichkeit zur Zeit um Christi Geburt … Nach einigem Palaver, das der Vorsitzende leider zuläßt, einigt man sich, daß eine gewisse (ich habe gesagt: eine katastrophale) Überalterung unsrer Gesellschaft nicht ohne weiteres in Zahlen auszudrücken, aber Tatsache ist. Ich sage: Schauen Sie hinaus in diesen Kurpark! (Nicht ohne Absicht haben wir für die Konferenz gerade diesen Ort gewählt.) Schauen Sie in diesen Kurpark, meine Herren, und Sie werden verstehen –
Unterbrechung:
der junge Kellner bringt die bestellten Getränke, Schweigen am Tisch, aber da er's nicht mit einem einzigen Tablett erledigenkann, also nochmals gehen und nochmals kommen muß, nochmals Palaver über die Fragwürdigkeit von Statistik allgemein, bis der junge Kellner, Italiener, so daß es auch noch Verständigungsschwierigkeiten gibt, endlich die drei Kaffee, davon zwei Hag, und die Mineralwasser, vier Henniez und zwei Passugger, richtig plaziert hat. Wieder muß der Vorsitzende bitten, daß er die Türe schließt.
Die Idee: –
angesichts der Tatsache, daß die Zahl der Menschen, die zu lange leben, in katastrophaler Weise zugenommen hat und weiterhin zunimmt – Frage: müssen wir so alt werden, wie die heutige Medizin es ermöglicht? … Tod, der ein Leben in der Fülle abreißt, wird zur Rarität; Angst vor dem Tod hat sich verlagert in Angst vor dem Altern, d.h. vor dem Verblöden … wir regeln den Eintritt ins Leben, es wird Zeit, daß wir auch den Austritt regeln … Meine Herren! … ohne jetzt schon auf die theologische Frage einzugehen, Heiligkeit des Lebens und so weiter, wobei allerdings in erster Linie, wie Sie wissen, das Leben der weißen Rasse gemeint ist, nicht unbedingt das Leben in Afrika oder Asien, insbesondere das Leben einer bestimmten Klasse, nicht unbedingt das Leben in den Slums … was ich sagen will: da wir heute, wie die Statistik zeigt, die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen verlängern können, so daß heute, im Unterschied zu früheren Epochen, die Mehrheit mit dem Altern zu rechnen hat, ist Altern ein gesellschaftliches Problem geworden wie noch nie – es geht nicht um die Planung von Altersheimen, die bestenfalls die Überalterung unsrer Gesellschaft humanisieren, aber nichts beitragen zur Verjüngung dieser Gesellschaft … auch ein individuelles Problem: ein Problem der Persönlichkeit, die sich nicht der Chirurgie und Pharmacie überlassen kann, sondern in Zukunft, meine ich, ihr Ende selber zu bestimmen hat – Meine Herren! … Wenn die Vereinigung, die zu gründen wirentschlossen sind, das Ziel hat, Freitod zu einem gesellschaftlich-sittlichen Postulat zu machen, so ist uns bewußt erstens: –
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