Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hanebüchenen Aussprüche seines ersten Arbeitgebers; das Wetter am Vormittag seiner Ehescheidung usw., man staunt, wie genau er berichten kann. Vor allem sein Gedächtnis für Pointen, die ihm einmal gelungen sind, ist erstaunlich … Der Gezeichnete erkennt sich daran, daß er sich eigentlich nicht an das Gebiß seines Lehrers auf dem öligen Boden des Klassenzimmers oder an das arkadische Wetter am Vormittag seiner Ehescheidung erinnert, sondern er erinnert sich an seine Erinnerung daran.
Der Gezeichnete ist verwundert, wie wenig Energie die Jungen haben. Sobald sie zu etwas keine Lust haben, ist von jungen Leuten wenig zu erwarten; zum vollen Einsatz bringt sie immer nur die Erwartung von Lust. Meint der Gezeichnete, daß er an Energie die meisten Jungen übertreffe, so täuscht er sich nicht. Mehr und mehr Dinge, die einfach getan werden müssen, damit man lebt, tut der Gezeichnete nicht nur ohne Lust, sondern auch ohne Erwartung von Lust; dadurch wird ihm seine Energie bewußt (die er für Vitalität hält) –
Wie könnt Ihr, denkt er mit Vorwurf, tagelang so herumlungern! Das könnte der Gezeichnete nicht: nur dem Genuß nachgehen – dazu reicht seine Genußfähigkeit nicht mehr.
Er sitzt auf dem Bettrand und weiß es Minuten lang: eigentlich lebt er nur noch aus Energie. Obschon ihm vieles mühsam wird, nicht nur Koffertragen und Treppensteigen, manchmal schon das Ankleiden, im Grunde vor allem die Gewißheit, daß ihm dieser Tag und alle weiteren Tage keine neue Erfahrung bringen werden, kommt es nicht in Frage, daß er länger im Bett bleibt und wie die Jungen den halben Tag verschläft; der Gezeichnete verrät sich durch gesteigertes Pflichtbewußtsein.
Wohlstand beschleunigt die Senilität.
Wohlstand tarnt sie länger.
Der Gezeichnete sieht sich immer öfter angewiesen auf Nachsicht; dabei kommen noch lange nicht alle Fehler und Irrtümer, die ihm unterlaufen, an den Tag. Hat er wirklich, wie er behauptet, die Wohnungstüre geschlossen? – er kann sich nicht mehr auf sich verlassen.
Macht er Geschenke, so kommt es immer öfter vor, daß sie umgetauscht werden; sein Geschmack ist überholt. Was den Gezeichneten allenfalls rettet: Großzügigkeit in bar.
Würde: der Schlupfwinkel des Gezeichneten.
Was einem Menschen, wenn die Fähigkeit zur spontanen Kommunikation schwindet, unentbehrlich wird: Gesinnung. Sie bringt auf einen gemeinsamen Nenner ohne persönliche Kommunikation. Zünfte, Vereine, Akademien usw., deren wesentliche Funktion insgeheim darin besteht, daß die Senilen sich nicht vereinsamt fühlen. Der Gezeichnete verrät sich nicht durch diese oder jene Gesinnung (links oder rechts), aber durch seinen zunehmenden Bedarf an Gesinnung.
Der Gezeichnete hat immer wieder einmal (vor allem im Morgengrauen) sehr helle Augenblicke; dann denkt er wie in seinen besten Jahren – er erkennt es daran, daß er plötzlich, ohne ersichtlichen Anlaß, seine Zukunft nur mit Entsetzen sieht.
Angst vor dem Hirnschlag.
Kann er's nicht lassen oder hält er's für seine Pflicht, immer noch in Gesellschaften zu erscheinen, so erkennt der Gezeichnetesich nicht nur daran, daß man ihm mehr Platz macht, als einer braucht – es entgeht ihm vielleicht, daß die Leute, die mit ihm sprechen, einander wie von einem Dienst ablösen, aber er ertappt sich, daß er eigentlich niemand vermißt …
Die Wahrscheinlichkeit, daß der Zug entgleist oder das Schiff untergeht oder ein Jet abstürzt, erhöht sich ja nicht mit dem Lebensalter des Passagiers; trotzdem hat der Gezeichnete vor einer Reise mehr und mehr das Bedürfnis, seine Sachen zu ordnen.
Oft, wenn wir einen Alten schließlich im Sarg sehen, empfinden wir Beschämung; das Toten-Gesicht zeigt fast immer, daß dieser Mensch einmal mehr gewesen sein muß als in seinen letzten Jahrzehnten.
Als erstes empfinden wir natürlich Erleichterung: es werden seit heute in Nord-Vietnam keine Bauern auf ihren Feldern getötet und keine Kinder in den Schulen … Daß Völkermord, wenn er nicht rentiert, eines Tages abgebrochen wird, ist aber noch kein Wunder. Es rentiert eben nicht, weder militärisch noch politisch. Auch läßt sich ausrechnen, daß der tägliche Prestigeverlust in der ganzen Welt, seit sie informiert ist, die Zerstörung vietnamesischer Dörfer zu kostspielig macht. Man hat sich verrechnet und zieht die Konsequenz, das ist alles. Saigon wartet auf den nächsten Angriff; im Dschungel mehren
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