Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
so macht's ihm nichts aus. Wir müssen nicht nur lauter sprechen, damit er's versteht, sondern unsere Rede auch vereinfachen, und was er schließlich verstanden hat, bestätigt ihm bloß, daß er vorher nichts verpaßt hat. Wenn er kaut, haben wir keine Lust auf die gleiche Speise. Wenn er noch raucht, so lutscht er; seine Zigarre ist immer naß, die Asche fällt auf seinen Bauch oder auf die Schenkel. Er kann einen guten Kopf haben, vor allem wenn er hager ist; auch dann hat er meistens einen ballonartigen Bauch, daher die gespreizten Schenkel beim Sitzen. Wenn mehrere zusammensitzen, so denkt man an Lurche; sie haben nichts mit uns zu tun. Hilft man einem Greis auf der Straße oder auf der Treppe, so ist man verlegen; man berührt ungern seinen Körper. Wenn er schläft, sieht er wie ein Toter aus; er tut uns gerade dann nicht leid. Auf einer Bank im Park stört er nicht. Kennt man ihn von früher, so ist man im Gespräch mit ihm zerstreut; man sieht ihn nur noch von außen: die Adern seiner Hand, die wäßrigen Augen, die Lippen –
Weil Altern in unsrer Gesellschaft ein Tabu ist, daher als innere Erfahrung kaum zur Sprache kommt, hingegen mit allen körperlichen Indizien öffentlich in Erscheinung tritt, neigen wir dazu, in erster Linie die körperlichen Indizien zu fürchten – die bekannten Alters-Erscheinungen: Ausfall der Zähne, Glatze, Säcke unter den Augen, Runzeln, Gebrechen usw., eben was der Umwelt sichtbar wird trotz Tabu. Lassen diese sich durch Medizin oder Kosmetik beheben, so erliegt der Gezeichnete gern der Täuschung, daß Jugend zu verlängern sei. Senilität ist aber ihrem Wesen nach nicht ein körperliches Gebrechen, sondern ein geistiger Zerfall.
Senilität kann früher oder später einsetzen. Ihr Eintritt ist nicht nach Jahrgängen zu bestimmen. Sicher ist nur, daß Senilität nicht ausbleibt.
Eine Zeitlang ist Selbsttäuschung möglich. Merken die andern nach und nach den Zerfall einer Person, so zeigen sie es der Person meistens nicht, im Gegenteil: sie ermuntern zur Selbsttäuschung auf alle Arten (Reden zum Geburtstag, Wahl zum Ehren-Präsidenten usw.) teils aus Mitleid, teils weil der Umgang mit einem Gezeichneten bequemer ist, solange er seine Vergreisung zu verhehlen genötigt ist. Kommt er eines Tages nicht mehr um das Geständnis herum, daß er ein alter Mann werde – was er schon seit Jahren ist – so wird er entdecken,daß sein Geständnis niemand überrascht; es berührt nur peinlich.
Der Gezeichnete beginnt Sätze zu bilden: »Schließlich haben wir schon einmal erlebt, daß/Auch unsereiner hat einmal/Wenn Sie einmal erfahren haben, was es heißt/Zu meiner Zeit/Zu unsrer Zeit/Heutzutage meint jeder/In Ihrem Alter, wissen Sie, hätte ich mich geschämt/Nach meiner Erfahrung gibt es nur eins/Man muß den Jungen eine Chance geben/usw.«
Der Gezeichnete erkennt sich daran, daß ihn niemand beneidet, auch wenn er Ansehen genießt oder Vermögen besitzt, also Möglichkeiten hat, die sie, die Jüngeren, nicht haben; trotzdem möchte niemand mit ihm tauschen.
Wenn von jemand die Rede ist, der etwas Außerordentliches geleistet hat oder demnächst zu leisten verspricht, erkundigt sich der Gezeichnete sofort nach dem Alter der betreffenden Person. (Sehr frühes Stadium). Der Gezeichnete beginnt Zeitgenossen immer weniger um ihre Leistung zu beneiden als um ihren Jahrgang: um ihren Vorrat an Zukunft.
Der Gezeichnete merkt es oder merkt es nicht, daß seine Anwesenheit die andern hemmt; man reicht ihm die Hand, wenn er kommt, und es braucht kein verlorener Abend zu werden, nur wird es ein andrer Abend; es wirkt sich sofort aus, wenn ein Gezeichneter zugegen ist: irgend etwas ist anstrengend – er will keine Schonung und es geht nur mit Schonung.
Der Gezeichnete ertappt sich auf einem neuen Spiel-Ehrgeiz: ein Sieg in einem körperlichen Spiel (Pingpong, Federball usw.) befriedigt ihn mehr als ein Schach-Sieg.
Die sichtbare Veränderung, die ihn am meisten irritiert, ist nicht die Veränderung seiner Haarfarbe – das weiß er nun schon: das Haar wird grau, auch sein Haar. Nur beim Coiffeur ist es noch ein kleiner Schock: sein Haar auf dem Linol, wo sie es später zusammenwischen, ist grauer als am Kopf; eigentlich sind's Büschel von schmutzigem Weiß, keine Spur von Blond oder Braun, er glaubt's kaum, aber was auf dem Linol liegt, kann nur sein Haar sein, und wenn der Coiffeur auch noch den Handspiegel bringt und hält, damit der Kunde sich
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