Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
angewiesen sein wird, meldet sich auf widersprüchliche Art: Sucht des Gezeichneten, seine Nächsten jetzt schon durch Güte zu verpflichten – anderseits neigt der Gezeichnete dazu, alles selber zu bestimmen und die Leute, deren Hilfe er demnächst braucht, solange wie möglich zu entmündigen.
Der Gezeichnete braucht weniger Speise, als er genießen könnte, und neigt daher zu Fettleibigkeit, die er fürchtet, weil sie ihn verrät auf den ersten Blick – dabei gibt es ja auch hagere, die gezeichnet sind, und umgekehrt wieder Fettleibigkeit bei Jungen … Tatsächlich verrät der Gezeichnete sich dadurch, daß er jetzt alles, was ihm an seiner Person auffällt, sogleich auf die Altersfrage bezieht.
Der Gezeichnete klagt gern über sein schlechtes Gedächtnis – in Fällen, wo es erstaunlich wäre, wenn überhaupt ein menschliches Hirn, auch ein siebzehnjähriges, nicht versagen würde. (Koketterie überhaupt in den frühen Stadien der Senilität.) Das Gedächtnis läßt nicht nach; nur ist es besetzt. Der Gezeichnete erinnert sich wortgenau an ein Gespräch im Zweiten Weltkrieg, hingegen schon schlechter an ein Gespräch von gestern Abend.
Einsturz des natürlichen Selbstvertrauens in den Wechseljahren des Mannes kann auch dann, wenn er seine Familie ernährt, die Familie verleiten zu den ersten Versuchen der Entmündigung. Er versucht sie vorerst nicht zu bemerken. Daß er aus lebenslanger Erfahrung weiß, wie man einen Büchsenöffner anzusetzen hat, hindert sie nicht zu sagen: Komm, laß lieber mich!
Daß er an einem Donnerstag meint, es sei Mittwoch, ist schon immer einmal vorgekommen; jetzt aber erschrickt er, wenn es vorkommt –
Der Gezeichnete verbirgt immer eine Angst. Wenn seine Serviette unter den Tisch gefallen ist, empfindet er es als Entblößung. Das teilt sich den Tischgenossen mit. Je näher die Leute ihm stehen, um so öfter fallen sie ihm ins Wort; vor allem die Gattinnen, auch wenn sie nichts anderes zu sagen haben, zeigen uns auf diese lebhafte Art, daß der Mann gezeichnet ist.
Weiß der Gezeichnete beispielsweise, wann Chruschtschow gestürzt worden ist, so bezweifeln seine Lieben, ob das Datum wirklich stimmt. Es kommt, obschon das Datum in diesem Zusammenhang eigentlich unwichtig ist, zu einer familiären Rechthaberei. Zeigt es sich anhand eines Lexikons, daß er tatsächlich im Recht ist, so lassen sie das Datum gelten: Der Gezeichnete hat Glück gehabt. Daß es ihm so wichtig gewesen ist, Recht zu behalten, verrät ihn trotzdem –
Der Gezeichnete versteift sich jetzt auf Marotten, um sich als Persönlichkeit zu manifestieren wenigstens vor sich selbst; was seine Umwelt nicht überzeugt, tut er grad zum Trotz. (Spätes Stadium). Alterseigensinn.
Angst vor dem Verblöden –
Der Gezeichnete erwacht immer öfter schon vor Tagesanbruch – zur Stunde der Hinrichtungen – er erwacht daran, daß er überhaupt nicht müde ist. Er wird Frühaufsteher – wozu?
Neigung zur Panik – meistens handelt es sich um Bagatellen, es fällt ihm ein, daß er die Feuerversicherung noch nicht bezahlt hat, oder er stellt sich vor, daß ihm die Wohnung gekündigt werden könnte, und alles erscheint ihm ausweglos für einen Augenblick, nie und nimmer zu bewältigen. Paniken solcher Art auch am hellichten Tag.
Der Gezeichnete, obschon er in seinem Leben viel gereist ist, wird vor dem Zoll nervös. Dabei hat er das Schmuggeln längst gelassen. Kommt es trotzdem zu Stichproben, so kann er rabiat werden: seit 40 Jahren dieselbe Frage, und man glaubt ihm seine Antwort noch immer nicht.
Da er weiß, wie oft er sich mit Leuten, die sich infam verhalten haben, später wieder versöhnt hat, neigt der Gezeichnete bei Anlässen, wo er früher in Zorn explodierte, eher zur Verachtung.
Der Gezeichnete hat ein erstaunliches Gedächtnis. So scheint es. Tatsächlich findet kaum ein Erinnern statt. Der Gezeichnetereproduziert Anekdoten, die er sich gemacht hat. Seine Gattin merkt es am ehesten: er wiederholt wortwörtlich. Hin und wieder kommt etwas hinzu, was sie noch nie gehört hat, aber selten. Sein Repertoire ist groß genug, um ihn noch gesellschaftsfähig zu erhalten: er überrascht die Zuhörer immer wieder, aber sich selbst fast nie. Er verfügt über ein Album präziser Souvenirs: Tapete im Elternhaus; das Gebiß eines tobenden Lehrers auf dem öligen Boden des Klassenzimmers; Details aus der Kriegsgefangenschaft oder von einem Lawinenunglück; die
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