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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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sich die verlorenen Posten, auf denen uns die amerikanischen Soldaten leid tun; der Entschluß von Präsident Johnson ist patriotisch: die Teilkapitulation, die sich als Friedensangebot gibt, erfolgt zur Erhaltung der imperialistischen Macht, die anderswo, z. B. in Lateinamerika, ohne allzu offenen Krieg wirtschaftet. Bombenstopp gegen den Norden als amerikanisches Entgegenkommen, das verdankt sein will: dafür soll die amerikanische Okkupation im Süden unbehelligt bleiben. Das vietnamesische Volk wird sich aber weiterhin in seine eigenen Angelegenheiten einmischen. Somit wird kein Friede sein, bevor die Invasionsarmee sich einschifft.
    Wer wird übrigens dieses Vietnam, das sich für die USA nicht rentiert hat, wieder aufbauen? Da die amerikanische Invasion in Vietnam nicht ein persönlicher Fehler von Kennedy oder Johnson gewesen ist, sondern die Konsequenz eines Herrschafts-Systems, das die Unterdrückung anderer Völker braucht, um zu bestehen, ändert der Rücktritt von Johnsonwenig; ein System hat sich entlarvt, und die Revolutionen gegen dieses System werden wachsen.
    »C'est pire qu'un crime, c'est une faute«, sagte Talleyrand und meinte vermutlich: ein Fehler rächt sich, ein Verbrechen nicht unbedingt. Die Nachricht von heute zeigt an, daß der Krieg in Vietnam ein Fehler gewesen ist, die Eskalation eines System-immanenten Fehlers … Unsere Erleichterung ist flüchtig.
     
    In einer Rundfrage der WELTWOCHE vom 5. 4. 1968
     
     
    PARIS
     
    Paris hat immer etwas von einer früheren Geliebten; richtiger gesagt: es hätte eine Geliebte werden können, doch hat man sich seinerzeit verpaßt. Es war schon die Allerweltsgeliebte und voll Literatur. Man nickt ihr zu, als kenne man sich, und es ist gar nicht wahr. Sie hat sich nie mit Barbaren eingelassen, und wer kein sehr richtiges Französisch spricht, bleibt ein Barbar. Das zeigt uns jeder Kellner schon nach drei Worten. Man macht sich lächerlich mit seinem stillen Anspruch wie gegenüber einer Dame, die nicht wissen kann, daß man von ihr geträumt hat. Was sollen meine Blicke! Man tut besser dran, nicht zu nicken, sondern eine fremde Zeitung auszuspannen, FRANKFURTER ALLGEMEINE, wie eine weiße Fahne. Auch wenn man die Namen ihrer Boulevards kennt, die Denkmäler der Dame, ihre Seine zu allen Jahreszeiten, das eine oder andere Restaurant, ihre Galerien, die schwärzlichen Fassaden mit den Trikolore-Garben, ihre Metro usw., diese Stadt weiß einfach, daß sie nie etwas mit dir gehabt hat. Ich kann mich noch so lange hinsetzen, sogar Erinnerung hervorholen: dieser Quatorze Juillet kurz nach dem Krieg, dieser linkischeParfum-Kauf bei der Vendôme, Proben im Theater, die Begegnung mit Samuel Beckett, eine Nacht in den Hallen, als Paar zwischen morgendlichen Metzgern mit Schürzen voll Blut, all dies geht Paris nichts an, diese Stadt mit jungen Gesichtern, die müde ist von Erinnerung an ihre Größe. Übrigens bin ich in dieser Stadt meistens froh gewesen; meine Sache. Es bleibt ihre Place des Vosges, ihr Jardin Luxembourg, ihre Seine, ihr Arc de Triomphe, ihr Goya im Louvre, ihr Café Flore usw., ihre Weltmitte.

Politik durch Mord
    Der große Mann der gewaltlosen Opposition, Kämpfer gegen die Armut im reichsten Land der Welt und für die Bürgerrechte der amerikanischen Neger, wird von einem Weißen erschossen. Es wäre leichtfertig zu sagen oder auch nur zu vermuten, daß die Staatsmacht der USA diesen Mord veranstaltet habe. Erstens sieht es anders aus, wenn die Staatsmacht mordet; zweitens kann es der Staatsmacht alles andere als erwünscht sein, daß gerade dieser Mann, Prophet der Gewaltlosigkeit, ermordet worden ist; man ist gerade jetzt angewiesen auf die Gewaltlosigkeit der Unterdrückten im eignen Land; man weiß, was der Vietnam-Krieg kostet, und die Armen im eigenen Land werden gerade jetzt, wie schon immer, Geduld haben müssen. Der Marsch gegen die Armut, den Martin Luther King in diesem Frühjahr hat führen wollen, sollte friedlich sein wie alle seine Reden und Taten zuvor. Sein Tod kann die Armut der amerikanischen Neger nicht abschaffen, möglicherweise aber ihre Geduld, ihre Hoffnung auf einen friedlichen Einzug in das Gelobte Land, wie der unerschrocken-sanfte Dr. Martin Luther King ihn predigte. Was sollen die Negertun? Sie sollen nicht die Nerven verlieren, weil ein Weißer geschossen hat, ein Einzelner. Der schon mehrmals ein Attentat gegen Martin Luther King versucht hat: der die Steine geworfen hat in Chicago: der die Drohungen

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