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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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von hinten sehe (so wie die andern ihn sehen) und sich bedankefür den Ansatz von Glatze (was der Rasierspiegel zu Hause nicht zeigt), erhebt er sich, als habe er Eile … Die sichtbare Veränderung, die am meisten irritiert: wo er hinkommt durch Beruf oder der Geselligkeit halber, ist die Mehrzahl der Zeitgenossen jünger als er; nicht alle sind jünger als er, aber vor allem jene Zeitgenossen, die ihn interessieren.
     
    Sein Bedürfnis, Ratschläge zu geben.
     
    Sucht des Gezeichneten, Aktuelles sofort unter historischen Vergleich zu stellen; ob der Vergleich ergiebig sei oder nicht, das Damals muß erwähnt werden: damit der Gezeichnete im Gespräch auf der Höhe ist.
     
    Bringt jemand eine Zote, so lacht er mit knapper Verspätung, da er prüfen muß, ob sie ihn nicht trifft; dann lacht er um einen Grad zuviel, der ihn entlarvt.
     
    Der Gezeichnete pocht auf seine Leistungen –
     
    Der Gezeichnete erkennt sich an einer neuen Art von Langeweile. Hat er sich früher manchmal gelangweilt, so meistens infolge der Umstände: in der Schule, im Büro, beim Militär usw. … Eigentlich konnte er sich in jedem Augenblick (früher) eine Situation denken, wo er sich gar nicht langweilen würde. Was neu ist: es beginnt ihn auch die Verwirklichung seiner Wünsche zu langweilen –
     
    Kommt er in Gesellschaft, so zeigt er, um sich nicht zu langweiligen, oft eine übertriebene Munterkeit; der Gezeichnete verkauft Witzigkeit als geistige Frische.
     
    Es langweilt ihn nicht nur die Verwirklichung seiner Wünsche; der Gezeichnete weiß, welche seiner Wünsche nicht zu verwirklichen sind. Das nennt er seine Erfahrung. Was ihn langweilt: Die Bestätigung seiner Erfahrung – Zukunft als déjà vu …
     
    Schwund der Neugierde.
     
    Der Gezeichnete wird teilnahmsvoll. (Mittleres Stadium). Er erkundigt sich bei jeder Gelegenheit, was die andern, die Jüngeren, grad machen. Was er gemacht hat, weiß man schon. Es ist an ihm zu fragen. Es ist rührend, wie er sofort Anteil nimmt oder sich mindestens bemüht. Dabei neigt der Gezeichnete, obschon noch bei kritischem Verstand, zusehends zum Lob. Nämlich durch ernsthaftes Loben kommt er noch an die Jüngeren heran. So meint er. (Es ist bekannt, daß Greise ungern anerkennen, was nach ihnen kommt; also gilt es zu zeigen, daß er kein Greis ist: indem er lobt.) Gelegentlich wagt er auch Kritik, aber nur Kritik, die Hoffnung macht. Was der Gezeichnete sich in keinem Fall leistet: die offene Gleichgültigkeit gegenüber Jüngeren … Er täuscht sich: – sein Lob hat wenig Wert; die Gelobten spüren, daß der Gezeichnete es als Köder braucht.
     
    Einen Witz, der offensichtlich nicht ankommt, macht jeder; der Gezeichnete erschrickt darüber. (Frühes Stadium.)
     
    Handelt es sich um Meinungen, so kann es dem Gezeichneten nicht entgehen, daß ihm immer weniger widersprochen wird. Das gibt ihm das Gefühl, eine Autorität zu sein – während die andern, die Jüngeren, in den Aschenbecher blicken oder unter dem Tisch einen Hund streicheln, solange er redet. Meinungen interessieren in dem Grad, als die Person, die sie vertritt, eine Zukunft hat. Nach einer höflichen Pause, die ihn durch Andacht ehrt, erzählt jemand einen Witz, um das Thema zu wechseln. Da er merkt, daß er sich neue Freunde nicht mehr machen wird, und da er keinesfalls Mitleid erregen will, erzählt der Gezeichnete gern von seiner Freundschaft mit einem Toten, die er ins Sagenhafte überhöht; der Tote widerspricht nicht (außer wenn ihr Briefwechsel veröffentlicht wird) und die Jüngeren können nur staunen, daß es so großartige und wirkliche Freundschaften wie damals (»Bauhaus« usw.) heutzutage kaum noch gibt.
     
    Hat er Anlaß zur Freude, so weiß der Gezeichnete, wie er sich bei solchem Anlaß früher gefreut hätte –
     
    Auch wenn er wider Erwarten etwas Neues erlebt hat, erzählt er weniger als früher. Lang bevor er denkmüde wird, zeigt der Gezeichnete sich stoff-unlustig; er will nur noch Essenz. (Aphorismus als Altersform.) Erst später, wenn er auch denkmüde ist, wird er geschwätzig.
     
    Familiensinn und Senilität. Zumindest läßt sich kaum bestreiten, daß der Familiensinn wächst mit der Senilität. Ebensoder Heimatsinn. (Rückkehr aus dem Ausland in späteren Jahren.) Der Gezeichnete in seiner Angst vor Vereinsamung betont jede Art von Zugehörigkeit, die er nicht herstellen muß, sondern die schon da ist.
     
    Bedürfnis nach Tradition.
     
    Angst davor, daß man eines Tages auf Hilfe

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