Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verbreitet in diesem weiten Land, so daß jeder Pilot, wenn dieser Priester in der Maschine sitzt, befürchten muß, diesmal sei die Zeitbombe dabei: der die andern Führer der Bürgerrechtsbewegung telephonisch wissen läßt, sie werden auch drankommen: das ist immer dieser Einzelne von Memphis gewesen? – der so schwer zu finden ist in diesem Land, das bei Rassenkrawallen über ein immer wieder imposantes Polizeikorps verfügt. Das Gewehr, das man gefunden hat, kann nur von einem Einzelnen bedient werden; die Darstellung aber, Martin Luther King sei von einem Einzelnen ermordet worden, wäre trotzdem eine Lüge. Man wußte in Memphis von den Drohungen. 40 Mann dieses Polizeikorps, bewährt im Einsatz gegen renitente Neger, bewachen in Memphis das Motel des bedrohten Priesters, offenbar nicht das Haus gegenüber; der Schuß ist zu hören, der Zielfernrohr-Schütze in 70 Metern Entfernung nicht zu ergreifen: nämlich die Hinterausgänge sind nicht bewacht. Ein günstiges Land für Mörder. Das Weiße Haus mahnt die Nation: mit Gewalt könne nichts erreicht werden. Es ist erreicht: Martin Luther King ist still.
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG schreibt:
»Nach vergeblichem Warten auf die Durchführung der bahnbrechenden Entscheidung des Obersten Bundesgerichts über die Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen, die, wenn überhaupt, an allzuvielen Orten nur symbolisch befolgt wurde, organisierte der damals als Pfarrer tätige King in den späten fünfziger Jahren in Montgomery im Staat Alabama den Autobus-Boykott der Neger. Es ging um ihr Recht, im öffentlichen Autobus der Stadt jedenfreien Platz einzunehmen. Bis dahin war es im ganzen Süden Vorschrift, daß Neger nur die hintersten Plätze besetzen durften, selbst wenn die vorderen Plätze frei waren.«
Das sind Fortschritte. In einer Gesellschaft, hier in Zürich, hörte ich einmal eine Dame sagen: kaum gibt man ihnen den kleinen Finger, wollen sie die ganze Hand. Da ist etwas dran. Auch Martin Luther King, scheint es, wollte zu viel, als er sich, statt in Atlanta zu predigen, einmischte in das Problem der nördlichen Gettos: Harlem, Chicago, Baltimore, Los Angeles …
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG schreibt:
»– das Problem der nördlichen Gettos, das viel schwerer zu lösen ist, weil es ein wirtschaftliches und soziales Problem ist, das sich in der Form eines Rassenproblems präsentiert. (…) Mehr und mehr blieben die Erfolge (von Martin Luther King) aus. Und mehr und mehr gewannen die radikaleren Negerführer Gehör, die die schwelende Not der Gettos auszubeuten begannen.«
Womit gesagt ist, wer in diesen Gettos die Ausbeuter sind, nicht jene, die die Arbeitskraft der Neger ausbeuten in einer Weise, daß es zur schwelenden Not der Gettos kommt, sondern die Negerführer, die diese Not abschaffen wollen.
»In Memphis streiken die Kehrichtabfuhrleute – alles Schwarze – seit langem, und zwar nicht nur, weil sie von der Stadt eine Lohnerhöhung wollen, sondern auch weil sie sich gewerkschaftlich zu organisieren wünschen.«
Der Bericht gibt zu:
»Am nächsten Montag sollte ein zweiter Protestmarsch durchgeführt werden, obschon ein lokales Gericht dagegen eine sogenannte ’injunction‘ eingelegt hatte. Der Weg aller amerikanischer Sozialreformbewegungen, vor allem auch der Gewerkschaften, ist mit solchen ’injunctions‘ gepflastert. Sie sind immer wieder mißachtet worden.«
Memphis ist also kein Sonderfall, sondern Muster: man unterdrückt Recht, und da die Unterdrückten, aufgeklärt von Pfarrer King, die Mißachtung ihres Rechts mißachten, herrscht Erbitterung bei den Unterdrückern.
»In der heutigen im Lande verbreiteten Stimmung tiefen Unbehagens, ja des Hasses und der Bitterkeit, führte Kings Herausforderung des weißen ’Establishments‘ von Memphis nun zu seiner Ermordung.«
Unser Gewährsmann in Washington, der einer links-tendenziösen Darstellung kaum zu verdächtigen ist, schreibt über die Gewerkschafts-Bewegung in den USA allgemein:
»Es war ein opferreicher Weg. Er bedeutete Gefängnis und oft Schlimmeres, allzu oft den Tod für die, die sich an diesen Aktionen beteiligten.«
Das betrifft nicht die Neger allein. In den zwanziger Jahren wurden zwei italienische Einwanderer, Sacco und Vanzetti, verhaftet unter dem Verdacht, Angestellte mit Lohngeldern ermordet zu haben. Während des Prozesses in Boston, der 63 Tage dauerte, meldeten sich zahlreiche Augenzeugen: sie hatten Vanzetti mit seinem Fischkarren gesehen, 32 Meilen
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