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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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körperlich.
     
    Da er von der Umwelt vorderhand nicht auf sein Altern aufmerksam gemacht wird (nicht wie später, wenn jeder Kellner, sobald es ans Zahlen geht, keinen Hehl daraus macht, wer da am Tisch der Alte ist), hält der Vor-Gezeichnete es für ein top-secret, daß er altert – Ausreden für seine Depression: es deprimieren ihn die politischen Verhältnisse, die Kultur-Industrie, die Ohnmacht der Intelligenz in einer verwalteten Gesellschaft usw.
     
    Ein 40-jähriger, der überall die exquisite Küche sucht (sofern er es sich leisten kann) und beim Speisen unentwegt über Speisen redet: ein Feinschmecker – ein Vor-Gezeichneter.
     
    Seine Angst, keine Einfälle mehr zu haben – dabei hat er Einfälle wie eh und je, nur ergibt er sich ihnen nicht ohne weiteres: der Vor-Gezeichnete kennt schon die Art seiner Einfälle.
     
    Er läßt es keinesfalls zu, daß man ihm den Mantel hält. Wo es bei einer gemütlichen Zusammenkunft einmal an Sesseln fehlt, gehört er zu jenen, die sich auf den Boden hocken. Er benutzt keinesfalls die Leiter ins Schwimmbecken, sondern springt.Wenn man Smoking tragen muß, zeigt er eine burschikose Haltung, Hände in den Hosentaschen. Beim Wandern mit Jüngeren trägt er den Rucksack usw. – zugleich macht er auf seine ersten grauen oder weißen Haare aufmerksam: als sei das Natürliche in seinem Fall sozusagen eine Kuriosität.
     
    Das Verhältnis zwischen Gezeichneten und Vor-Gezeichneten ist für den Gezeichneten leichter als für den Vor-Gezeichneten, der auf jede Anbiederung von Geronten, selbst von verdienstvollen, allergisch ist – der Vor-Gezeichnete betont dann gerne die Distanz, indem er sich bescheiden gibt.
     
    Er kann Altherren-Witze nicht leiden. Das ist nicht neu. Nun fallen sie ihm bereits selber ein.
     
    Schaut er sich nach Jahr und Tag wieder einmal einen Stierkampf an, so vergißt er sich im Augenblick: der Matador ist gestürzt, Schrei der Arena-Menge – der Vor-Gezeichnete ist aufgesprungen wie alle andern, aber indem man sich wieder setzt, sagt er: Einmal, in Bilbao, habe ich einen Matador gesehen usw.
     
    Sein Stimulans: Aktivität.
     
    Zukunft … Für den jungen Menschen: eine Summe vager Möglichkeiten (irgendwann einmal wird er heiraten, später einmal, vielleicht auch nie, vielleicht wird er einmal ein Star, vielleicht auch nicht, vielleicht wird er irgendwohin auswandern.) … Für den Vor-Gezeichneten ist die Zukunft ebenfalls ungewiß, aber schon eine absehbare Zeit, keinesfalls hoffnungslos, eine Summe abschätzbarer Möglichkeiten (er kann noch Bundesrat werden, aber dann müßte es bald geschehen)… Für den Gezeichneten ist die Zukunft alles, wofür er nichtmehr in Frage kommt, eine Summe definitiver Unmöglichkeit (er wird nicht mehr Segelflieger werden, er wird die Landung auf dem Mars nicht mehr sehen, nicht einmal den neuen Hauptbahnhof in Zürich usw.)… Der Vor-Gezeichnete spricht am meisten von der Zukunft, von seinen Plänen.
     
    Er verrät sich zuweilen durch Taktlosigkeit; gegenüber Leuten, die um Jahrzehnte älter sind, betont der Vor-Gezeichnete, daß er nicht mehr der Jüngste sei – wogegen er gegenüber Jungen gerne betont, was er schon geleistet hat. Der Vor-Gezeichnete bringt immer die Altersfrage hinein.
     
    Blick für die Alters-Veränderungen bei andern. Bisher konnte er sich einen Greis immer nur als Greis vorstellen; neuerdings meint er, wenn er einen Greis anschaut, ungefähr zu erraten, wie dieses Gesicht vor 30 Jahren ausgesehen hat … Er sieht sich selbst ungern in einem Album: als Student, als Lehrling, als Rekrut usw.
     
    Lange bevor von Senilität die Rede sein kann, erkennt sich der Vor-Gezeichnete an seinem Interesse dafür, wie er im Gedächtnis bleiben wird. Bisher war es ihm wurscht, was man später einmal über ihn sagen mag. Der Künstler, der bei der Arbeit bereits seinen Nachruhm berücksichtigt: – ein Vor-Gezeichneter.
     
    In seinem Beruf kann er mehr als früher, weiß mehr und hat Möglichkeiten, die er früher nicht hatte; er wird befördert. Zugleich erkennt er sich daran, daß er von Jüngeren zu lernen hat. Darauf war er nicht gefaßt; bisher lernte er stets von Älteren, was leichter fällt … Der Vor-Gezeichnete widersetzt sich dem Neuen nicht; nur kommt es nicht von ihm.
     
    Hat er einen schweren Unfall überstanden (Totalschaden, aber wie durch ein Wunder überlebt er) so berichtet er wieder und wieder den genauen Hergang seines Beinahe-Todes; der Vor-Gezeichnete weiß: in

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