Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Boulevard gefüllt hat mit dem Anspruch, das fortschrittliche Volk zu sein, haben angefangen mit Verkehrsstörung, Besetzung der Sorbonne, Hissen von Emblemen, als wäre da schon ein Sieg zu feiern, Aggression gegen Hüter der Verfassung, also Gewalttätigkeit. Verurteilst du das oder nicht?
B.
Es ist mir aufgefallen, daß es angefangen hat mit einer gewissen Fröhlichkeit, Jugend singend Arm in Arm, Plausch mit Parolen, Enthusiasmus ohne Taktik usw., jedenfalls mit einer gewissen Fröhlichkeit: anders als ein Bataillon vor dem Einsatz im Mekong-Delta. Man hat nicht den Eindruck, diese Leute müssen töten.
A.
Immerhin werfen sie dann Pflastersteine.
B.
Die meisten sehen sehr jung aus, zugleich müde, man hat den Eindruck, sie wissen nicht, wohin mit ihrer Jugend in dieser Gesellschaft.
A.
Sie haben so ziemlich alles.
B.
– was ihren Vätern kostbar scheint.
A.
Was fehlt ihnen?
B.
Zum Beispiel dieser eine mit der Lederjacke, der gegen die Wasserwerfer lief, ich weiß nicht, was er sich verspricht außer Lustgewinn. Einmal habe ich mich gefragt, was sich eigentlich ereignen würde, wenn es keine Polizei gäbe.
A.
Wie reagierst du auf Sachschaden?
B.
Wie schon gesagt: anders als auf die ordentlichen Kriegsspuren. Der Sachschaden, den man gesehen hat, ist beträchtlich, zugleich hat er eine gewisse Ironie: Warum soll man Menschenwerk grad im eignen Land nicht zerstören dürfen? Der Sachschaden entsetzte mich weniger, offen gestanden, als auf den täglichen Kriegsbildern. Überhaupt hat alles, auch wenn Blut geflossen ist, ein Element von Ulk: wie wenn ich mir vorstelle, daß ich einmal in einen Kristall-Leuchter schieße oder mit einer Dampfwalze durchs Warenhaus fahre. Eigentlich seriös und dadurch komisch, weil sie mit Maschinengewehr und Flammenwerfer sofort Herr der Lage sein könnte, wirkt nur die Polizei, erbitterter als die schwächeren Manifestanten und frustriert. Offensichtlich hat sie die Order, als Staatsgewalt so lang wie möglich sich nicht gewalttätig zu zeigen. Sie stellt sich als Beschützer auf, wobei der Beschützte unsichtbar bleibt. Plötzlich sperrt sie ein Boulevard ab. Warum eigentlich? Um deutlich zu machen, wo der Staat beginnt: da wo jetzt die Polizei steht in Hundertschaften. Es könnte auch anderswo sein, es kommt auf zwei oder drei Kilometer nicht an; vorher sah man nur Jugend singend Arm in Arm, aber irgendwo muß der Staat beginnen. Um losschlagen zu können, braucht es Ungehorsam, und dieser ist zu haben, indem man ein Boulevard sperrt. Dabei wirkt die Polizei selbst konsterniert. Jede Aktion, die sie erfolgreichdurchführt, kostet sie die Gloriole des Beschützers. Es zeigt sich, daß Fallschirmtruppen nicht nur besser geschult sind in der Anwendung von Gewalt, besser ausgerüstet als die Studenten und was sonst das Boulevard füllt; jeder einzelne, so hatte ich den Eindruck, ist einer ganzen Studentenschaft überlegen: er handelt auf Befehl. Das gibt ein unbefangenes Verhältnis zur Gewalttätigkeit; er prügelt oder schießt ja nicht als Person, und der Staat wird mit der Gewissensfrage immer fertig.
A.
Du nimmst also Partei?
B.
Theoretiker der Revolution sagen, es fehlt die Massen-Basis usw., also ist es ein falsches Unternehmen; so macht man keine Revolution.
A.
Offenbar haben sie recht.
B.
Vielleicht ist das Unternehmen trotzdem wichtig für die Gesellschaft, die an der Macht ist; sie sieht, daß sie sich nur halten kann durch Gewalt – was der Bürger gern vergißt.
ROM, Juni 1968
Der Mann am Kiosk, PIAZZA DI SPAGNA, kennt einen nicht mehr. Die Kellner sofort: Come sta? Die verrotzte alte Bettlerin mit Zigarette im Mund noch immer da. VIA GIULIA. Wie bei jedem Wiedersehen mit einem früheren Wohnsitz: man wird sich unglaublich. In der VIA CORONARI polstern und polieren sie immer noch Antiquitäten, Settecento-Sessel, Truhen aus den Abruzzen, Tische aus der Toscana. VIA MARGUTTA: jetzt mit beat-shops. VIA DELLA CROCE, die sich nicht verändert hat: Obst, Eier, Gemüse, Weine, Pasta, Blumen. Ein römischer Freund hat immer noch seinen Uhu. Ein andrer, Sizilianer, ist immer noch Professor. SPERLONGA: es ist ja nicht zuerwarten, daß das Meer sich verändert hat, trotzdem eine leichte Verblüffung, daß es sich tatsächlich nicht verändert hat. Die gleichen Wellen. Wir setzen uns auf die gleichen Sessel, wir essen denselben Fisch: Dentice al forno. CERVETERI: die Etrusker sind noch genauso tot. PIAZZA VENEZIA: nur die Polizisten werden jünger, der Verkehr noch
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