Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
einigen Jahren ist es nicht mehr dasselbe – unsere Chance, einen tragischen Tod zu haben, ist befristet.
Vor-Senilität erweist sich in den meisten Lebensläufen als die Epoche der besten Leistungen im Beruf. (»Reife«, »Beherrschung seiner Mittel«, »Meisterschaft«, »Souveränität« usw.)
Er macht eine Entdeckung – beim Gespräch auf einer Straße oder in Gesellschaft, wenn später getanzt wird, oder beim Eintreffen einer schlechten Nachricht, erinnert er sich plötzlich an den alten O., der längst verstorben ist: wie der alte O. beim Eintreffen einer schlechten Nachricht überhaupt kein Wort dazu sagte, sondern sogleich das Gespräch fortsetzte (was ihm, dem Jüngeren, damals imponierte); wie der alte O. in Gesellschaft, wenn getanzt wurde, durch besondere Anteilnahme jemand fesselte, um nicht allein sitzen zu bleiben, und dabei seine volle Hilfe anbot (was ihm, dem Jüngeren, damals großzügig erschien); wie der alte O. beim Gespräch auf der Straße öfter stehen blieb, um so das Wort an sich zu reißen … Die Entdeckung: daß es Merkmale eines Alten sind, was er für Merkmale einer Person gehalten hat. Er selber macht es genau so.
Als Vater weiß der Vor-Gezeichnete, daß seine Kinder durchaus Erwachsene sind, sozusagen Zeitgenossen – er erwartet infolgedessen, daß sie auch ihn als Zeitgenossen betrachten, und gibt sich (was bleibt ihm andres übrig) nicht mehr als Erzieher und Besserwisser, sondern als Kamerad, bis er merkt, daß sie ihn nicht als Zeitgenossen betrachten, sondern als ihren Vater.
Ist er gesund, so glaubt der Vor-Gezeichnete, so oft der Arzt es bestätigt, leicht an Wunder: daß man nicht vergreise, wenn man gesund bleibt.
Da die Gattin ebenfalls altert (was ihm zu Hause nicht auffällt, aber in Gesellschaft), schätzt es der Vor-Gezeichnete, allein in Gesellschaft zu sein – er fühlt sich dann freier, altersfrei … Zwar färbt sie ihr Haar, was er nicht tut, und ist in der Konversation muntrer als er, aber sie erwähnt jedesmal den Schwiegersohn oder wie man sich damals (im Zweiten Weltkrieg) getroffen hat oder wann man auch in Kairo gewesen ist usw., das tut sie vor allem, wenn jüngere Frauen zugegen sind, mag sein: unbewußt.
Kommt es zum 50. Geburtstag, den er seit Jahren gefürchtet hat, so ist er erstaunt: er hat immer gemeint, einer mit 50 sei ein älterer Mann. So fühlt er sich gar nicht. Es ist ein Witz, wie alle seine Bekannten auf diese Zahl hereinfallen. HAPPY BIRTHDAY TO YOU, dabei zeigt er's, daß er selber nichts daran findet. Vielleicht war es früher einmal so, daß man mit 50 ein älterer Mann war. Noch hat er sich in der Hand (nicht wie Michel de Montaigne: »So löse ich mich auf und komme mir abhanden«.), darauf läßt sich anstoßen … Ein bewußtes Verhältnis zum Altern hat er trotz allen heimlichen Ängsten noch immer nicht; er widersetzt sich nur jeder Resignation.
BERZONA
Eine Ehefrau sagt beim Boccia-Spiel zu ihrem Mann: Du bist schwach wie immer. Er sagt später: Jetzt gibt's nur eins, jetzt knalle ich meine Frau einfach weg. Er meint natürlich nur ihre Kugel in der Bahn. Alles in vergnüglichem Ton. Als er es versucht hat, lacht sie: Können muß man! … Es gibt zwei Möglichkeiten: das Paar spielt zusammen als Partei oder wir mischen, so daß Mann und Frau, spielhalber mit einem andern Partnervereint, gegeneinander antreten. Als Gastgeber lasse ich die Wahl. Die meisten Paare, ob verheiratet oder nicht, möchten lieber nicht eine Partei bilden, vor allem Paare, die sich schon einmal im Spiel erfahren haben. Tatsächlich sind sie dann weniger vergnügt; da hilft auch kein Wein dazwischen. Dann sagt er: Jetzt tu doch endlich einmal, was ich dir sage. Oder: Entschuldige, das ist mir ausgerutscht. Und da sie nichts sagt, wiederholt er: Entschuldige. Da wir erwachsene und gebildete Leute sind, geht es natürlich nicht ums Gewinnen. Sie sagt: Schau, wie er das macht! Sie meint den Mann in der Gegenpartei. Er sagt: Du hast eben eine Flasche geheiratet. Es kommt vor, daß das Paar, eben noch in bester Laune, lange nicht miteinander spricht, bis sie sagt: Du bist an der Reihe, aber spiele nicht wieder wie ein Idiot. Alles in vergnüglichem Ton. Das Spiel läßt kein ernstes Gespräch zu. Er will es nämlich gut machen. Sie sagt: Gut, sehr gut! worauf er sagt: Aber jetzt mach du nicht wieder alles kaputt. Fast hat man den Eindruck, sie verlieren lieber, zumindest macht der Sieg keine gemeinsame Freude …
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