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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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nickt er. Er stützt sich noch immer auf seine Harke, hemdärmlig, ein Alter im Ruhestand. Einmal mehr ist es ein Jammer, daß ich nicht russisch verstehe. Ich würde ihm schwören, daß ich im Ausland nichts berichte, kein Wort; auch habe ich ja keine Kamera, nur einen leeren Kanister in der Hand. Warum Sofija jetzt lacht, keine Ahnung; ich bin aber froh. Als wir an den Gartenzaun gekommen sind und als der Alte gesehen hat, wie verschwitzt wir sind auf unserer Suche nach Benzin, hat er irgend etwas zu trinken angeboten; Sofija hat sofort abgelehnt. Warum? Jetzt lacht sie wenigstens; ich sehe nur, wie der Alte mich daraufhin anschaut. Der Fremde heißt in der russischen Sprache (soviel ich weiß) der Stumme. Wie er mich anschaut: beinahe gerührt. »Er hat gefragt, woher Sie kommen«, sagt Sofija pflichtgemäß, »ich habe ihm gesagt, Sie seien Schriftsteller.« Was sie daraufhin zum Lachen gebracht hat, erfahre ich nicht. Ich lächle aufs Geratewohl. Eine nächste Frage, die der Alte jetzt an den Stummen richtet, wird von Sofija nicht übersetzt (das macht sie öfter so) und bleibt also ohne Antwort. Ob er Englisch versteht, finde ich nicht heraus; jedenfalls geht er nicht darauf ein, als ich probeweise frage:»Do you have many visitors?« Eine ungeschickte Frage, weiß Gott; zum Glück versteht Sofija nicht Englisch. Man hat den Eindruck, er lebe ohne Bewachung, nicht unzufrieden mit der Gegend und bei robuster Gesundheit, wenn auch alt. Ich überlege gerade, wann eigentlich die Kuba-Krise gewesen ist, die Drohung mit den Raketen, während er sich offenbar noch immer wundert, was ein westlicher Schriftsteller in dieser Gegend verloren hat. »Er habe großen Respekt vor Schriftsteller«, sagt Sofija, und damit ich nicht wieder meine, was nicht stimmt: »unsere Bauern haben großen Respekt vor Schriftsteller.« Sonst spricht sie erstaunlich korrekt. Als er offenbar fragt, was sie dem Fremden eben gesagt habe, gibt sie auch dem Alten keine Antwort, sondern blickt auf ihre Uhr, und wir blicken einander an, der Alte und ich, zwei Entmündigte. Ich lobe jetzt die flache Gegend, die Üppigkeit seines Salates, eine Birke usw., um Sofija wieder zum Übersetzen zu verleiten. Er ist übrigens kleiner als erwartet, nicht fett, aber gedrungen, sein Rundschädel fast ohne Haar. Je überzeugter ich bin, daß er es tatsächlich ist (im allerersten Augenblick habe ich nur meine Sofija foppen wollen), um so verlegener bin ich natürlich auch. »Sagen Sie ihm, Sofija, daß ich Gast des Sowjetischen Schriftstellerverbandes bin«, sage ich, damit er, wenn er es wirklich ist, nicht einen Spion vermutet, »sagen Sie es ihm bitte.« Es scheint ihn nicht zu überraschen, nicht zu enttäuschen, nicht zu freuen; ein Bauer oder ein Eingeweihter, das bleibt undurchsichtig. »Wir müssen jetzt gehen«, sagt Sofija wieder, und der Alte, der vielleicht einmal über Krieg und Frieden entschieden hat, legt auch keinen besondern Wert darauf, daß das Intourist-Fräulein, das die Sowjetunion zu schützen hat, und der Ausländer mit dem leeren Kanister in der Hand länger vor seinem Gartenzaun stehen. Er hat keine Tankstelle. Er hat Solschenyzin damals zur Veröffentlichung zugelassen, Novi Mir , er hatdie Stalin-Leiche aus dem Mausoleum versetzt. Wie er vor uns steht, seine etwas klumpigen Hände auf den Griff der Harke gelegt, traut man es ihm nicht ganz zu. »Sagen Sie ihm«, sage ich, »daß wir uns leider verirrt haben in der Gegend.« Wir haben keine Erlaubnis hier zu sein und sind es trotzdem; Sofija tut mir leid. Sie hat Augen wie ein Vogel, ich weiß nicht immer, wohin sie eigentlich blickt. Manchmal übersetzt sie auch, wenn der Towarisch nichts gesagt hat. »Ob Sie zum ersten Mal in der Sowjetunion seien«, sagt Sofija, »aber ich habe es ihm schon gesagt.« Ich sage trotzdem: »Zum dritten Mal!« was nicht wahr ist. Warum sage ich das? Sofija übersetzt es auch nicht, sondern zeigt auf ihre Uhr, und ich verstehe. Als wir gekommen sind und den alten Towarisch angesprochen haben, hat man sich die Hand gegeben, ein Volk von Brüdern; jetzt ist es schwieriger. »Fragen Sie ihn doch«, sage ich, »ob er Nikita Chruschtschow ist.« Eigentlich müßte er den Namen verstanden haben trotz meiner Aussprache. Ein schwieriger Augenblick für die brave Sofija; sie tut jetzt, als habe sie ihrerseits den Namen nicht verstanden. Ich schätze sie Mitte dreißig, das würde heißen: als Sofija irgendwo zur Schule ging, hat sie diesem Mann noch mit

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