Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
erwähnen Sie, daß Sie heute noch Lampenfieber haben vor jedem Auftritt. Unser Handbuch hat nirgends behauptet, daß der Gezeichnete, wenn sein Beruf ihn zu öffentlichen Auftritten nötigt, kein Lampenfieber mehr habe und keinen Grund dazu.
H. P., 23, Frankfurt
Erfahrung macht dumm … Diese Parole, die oft von Studenten zu hören ist, hat eine gewisse Richtigkeit; sie beruht auf Erfahrung.
Frau Ch. G., 50, Kilchberg
Selbstverständlich erachte ich die Frau als gleichberechtigt. Wenn in diesem Handbuch nicht von der alternden Frau die Rede ist, so keinesfalls aus Nachlässigkeit oder Takt, sondern aus einem einzigen Grund: ich erfahre die Frau nur als einWesen, das sich auf den Mann bezieht (nicht unbedingt auf den anwesenden, aber auf den Mann überhaupt) als Geschlechtspartner. Eine Ahnung von Versäumnis befällt daher den Mann in dem Grad, als bei der Frau nicht nur die Tarnung durch Kosmetik versagt, sondern ihr Selbstverständnis zunimmt, das sie bisher dem Mann geopfert hat. Ihr spätes Selbstverständnis beschämt ihn – mag sein, daß sie ihn für Augenblicke noch an das Mädchen erinnert, das sie einmal gewesen sein muß, aber er sieht sich jetzt gestellt von einem außergeschlechtlichen Partner, der nicht mehr auf seine Imponier-Geste eingeht oder kaum: bei gleicher Intelligenz ist sie jetzt die Überlegene. Frauen altern besser.
PS.
Auch nicht immer.
PS.
Wenn man sagt, daß die Frau früher alt werde, so meint man, daß sie früher aus der Geschlechtlichkeit entlassen ist – wogegen der Mann sich immer noch als Geschlechtswesen zu verstehen hat oder zu verstehen sucht, somit als solches altert; der Greis ist eher lächerlich als die Greisin. (Mittleres bis spätes Stadium.) Die Macht der Matrone über das Immer-noch-Männchen.
Monsignore G. C., 69, Rom
Das Motto von Michel de Montaigne finden Sie im Essai VON DER ERFAHRUNG , nicht im Essai ÜBER DAS ALTER , dessen erste Sätze sich auch geeignet hätten: »Ich kann mich nicht in die Weise finden, in der wir die Dauer unseres Lebens bestimmen. Ich sehe, daß die Weisen sie im Vergleich zur gewöhnlichen Meinung ganz erheblich verkürzen. Wie, erwiderte der jüngere Cato denen, die ihn daran hindern wollten, sich zu entleiben, bin ich denn jetzt in einem Alter, in dem man mir vorwerfen könnte, zu früh aus dem Leben zu gehen? Unddoch hatte er erst achtundvierzig Jahre.« (Montaigne wurde 59.)
H. Z., 81, z. Z. Bad Ragaz
Sicher gibt es immer Ausnahmen.
Manifeste, Mauer-Texte an der Sorbonne, Plakate, Karikaturen mit Kreide oder Kugelschreiber, Parolen der französischen Studenten im Mai, Flugblätter – jetzt erschienen als Buch, ich kann's zu Hause in Ruhe durchblättern und als Farbdruck genießen, vom Tatort abgelöst, Kunst. BOURGEOIS VOUS N'AVEZ RIEN COMPRIS. Ich lese mit verschränkten Beinen: FEU LA CULTURE. Oder: L'ART C'EST MERDE.
Towarisch
»Das ist nicht möglich«, sage ich zur Dolmetscherin, »das ist ein Witz – fragen Sie ihn, ob er es wirklich ist.« Natürlich verstehe ich ihr Zögern, meine Frage zu übersetzen; wenn er es ist, so war er einmal der mächtigste Mann der halben Welt. »Warum fragen Sie nicht?« sage ich und denke, es könnte ja möglich sein. »Ich denke«, sagt sie, »wir müssen weiter.« Immer diese Bemutterung, und dann sagt sie es vermutlich auch zu dem alten Towarisch, daß wir keine Zeit haben. Ihr kalter Respekt vor ihm widerlegt immerhin ihre Rede an mich: »Er ist ein gewöhnlicher Bauer, ich sage es Ihnen, hier sehen viele so aus.« Sicher ist nur, daß der Alte kein Benzin hat, nicht weiß, wo in der Gegend man Benzin findet … Vor Tagen, in Moskau, habe ich einmal seinen Namen erwähnt und vonSofija erfahren, daß Hochachtung nicht erwünscht ist, sogar ungehörig, jede Erwähnung seines Namens eine schwere Taktlosigkeit. Ich verstehe, daß die Begegnung an diesem Gartenzaun, wenn der Alte es tatsächlich ist, für meine Dolmetscherin sehr unliebsam ist, eigentlich nicht wahr. Was kann ich dafür? Wenn er es ist, so hält er sich großartig; er muß sofort gemerkt haben, daß ich ihn erkannt habe, und versteht auch Sofija, will sie nicht in Verlegenheit bringen, diese brave und beflissene Genossin von heute, die dem alten Mann zum zweiten Mal vermutlich unser Mißgeschick erzählt. »Er weiß nicht, wo es Benzin gibt, sagt er, aber es gibt Benzin«, sagt Sofija und betont: »natürlich gibt es Benzin!« als zweifle ich daran. Obschon er kein Deutsch versteht,
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