Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
einer genauen oder vagen Hoffnung?
24.
Sind Sie schon einen Tag lang oder eine Stunde lang tatsächlich ohne Hoffnung gewesen, auch ohne die Hoffnung, daß alles einmal aufhört wenigstens für Sie?
25.
Wenn Sie einen Toten sehen: welche seiner Hoffnungen kommen Ihnen belanglos vor, die unerfüllten oder die erfüllten?
In Moskau, vor sieben Wochen, hörte man von einer Botschaft, die ein Wissenschaftler an die Machthaber im Kreml adressiert hat: sie wurde nicht veröffentlicht, aber offenbar unter Intellektuellen verbreitet. Inzwischen ist die ausführliche Schrift, deren Inhalt man nur gerüchtweise kannte, in Übersetzungen erschienen (»New York Times«, »Die Zeit«): ihr Verfasser, Andrej D. Sacharow, ein sowjetischer Physiker, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und 1958 Nobelpreisträger, ist Kommunist. Seine Botschaft verurteilt die stalinistische Periode, deren Opfer er auf mindestens zehn Millionen schätzt, und untersucht das Erbe dieser Periode, die Situation heute. Sacharow schildert den sterilen Bürokratismus, der sich für Sozialismus ausgibt und daher als ein Tabu gilt; er spricht offenvom idiotischen Dogmatismus der Funktionäre, der die Probleme der Welt-Zukunft zu lösen nicht imstande ist, also von einer tödlichen Gefahr für die kommunistischen Länder selbst und für die Welt. Seine Kritik, die Sacharow als Eingeweihter zu begründen vermag, hat den Ernst des Alarms und führt zu einer nüchternen Mahnung: daß beide Lager, Ost und West, aus ihrem erstarrten Denkschema herausfinden zu einer globalen Kooperation (was mehr ist als die bloße Koexistenz, wie sie sich heute versteht: Übereinkunft der atomaren Großmächte, die ihre Machtinteressen aushandeln auf Kosten Dritter) als der einzigen Chance für eine Zukunft der Menschheit. Sacharow verweist auf Prag; seine Hoffnung deckt sich mit der unseren: daß Sozialismus sich endlich entwickle in der Richtung seines großen Versprechens.
Ist dieser Versuch gescheitert?
Die sowjetischen Panzer in der Tschechoslowakei erinnern, so heißt es, an den 17. Juni in Berlin und an Ungarn 1956, nur ist der Vergleich verfehlt: in Prag war kein Aufstand, sondern die kommunistische Partei selbst hat den Versuch unternommen, Sozialismus zu demokratisieren, und die tschechoslowakische Regierung hat keinen Tag lang die Kontrolle verloren über diesen Versuch. Die sowjetischen Truppen verteidigen nicht, wie vorgegeben wird, den Sozialismus gegen Konterrevolution; sie verteidigen lediglich das heutige sowjetische Establishment, das Furcht hat vor einer Evolution des Sozialismus, die unabwendbar ist auf die Dauer, unabwendbar auch für die Sowjetunion; ihr militärischer Aufmarsch ist die Manifestation dieser Furcht, die aber nicht die Furcht des russischen Volkes ist, sondern die Furcht der Funktionäre vor dem eigenen Volk. Der tschechoslowakische Versuch ist nicht gescheitert, aber unterdrückt.
WELTWOCHE, Zürich, 30. 8. 1968
Handbuch für Mitglieder
Als Friedrich Hölderlin im Alter von 71 hörte, daß von Goethe die Rede war, sagte er: »Ach – Herr von Goethe!« Er erinnerte sich sofort an seinen Besuch bei Goethe am 22. 8. 1797, also vor 44 Jahren; der überlieferte Seufzer von Friedrich Hölderlin stammt aus dem Jahr 1841 … Der Gezeichnete erkennt sich nicht nur an seiner Vergeßlichkeit, sondern ebenso sehr an einer Unfähigkeit, gewisse Vorkommnisse vergessen zu können.
Hispano-Suiza verkauft Geschütze, die Hitler bestellt und nicht mehr abgeholt hat, und dazu Ausschuß-Munition nach Afrika. Die Schweiz bietet ihre guten Dienste an, Botschafter August Lindt aus Moskau. Zeitungenmelden einen gesetzwidrigen Waffenhandel von Bührle-Oerlikon. Schlagzeilen: Der Bundesrat fordert Untersuchung. Zuerst heißt es: 10 Millionen, dann sind es 90 Millionen für Waffen nach Nigeria, Israel, Ägypten, Südafrika. Fälschung von Unterlagen zur behördlichen Bewilligung der Waffenausfuhr; Dr. Dietrich Bührle hat nichts davon gewußt, Strafklage gegen zwei Vize-Direktoren. Bundesrat und Bührle, Oberst in der schweizerischen Armee, deren Lieferant er ist, sind sich in einem Punkt einig: ohne Waffen-Export wäre eine schweizerische Rüstung nicht möglich. Einige Wochen nach dem Skandal, der die Öffentlichkeit betrübt, als wäre Derartiges noch nie vorgekommen, bestellt der Bundesrat bei Bührle-Oerlikon militärisches Material im Betrag von 490 Millionen. Wo sollte er sonst bestellen? Eine Verstaatlichung der
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