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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Pfingstrosen gewinkt und ohne Zweifel. »Warum fragen Sie nicht?« sage ich leise; Sofija kann doch nichts dafür, wenn er es ist. Als der Alte mich anblickt, zögere ich ihm die Hand zu geben. »Sagen Sie ihm, wir danken ihm«, sage ich, »wir werden schon eine Tankstelle finden.« Sofija scheint jetzt verwirrt: »Möchten Sie noch etwas wissen?« fragt sie, statt zu übersetzen. Sicher weiß der Alte (ob er's nun ist oder nicht) von Maßnahmen in der Tschechoslowakei, von Vietnam, während er hier Salate pflanzt; er wirkt nicht verkalkt, und falls er Nikita Chruschtschow ist: nicht verbittert darüber, daß er kaum mit einem Staatsbegräbnis rechnen kann. »Was hat er eben gesagt?« frage ich Sofija; sie findet es aber belanglos, keinerÜbersetzung wert, Plauderei über den Gartenzaun. »Gehen wir«, sagt sie, »er kann uns nicht helfen.« Es macht sie immer nervöser, daß wir noch immer ohne Benzin sind. »Towarisch«, sagt sie zu dem Alten mit dem bäuerlichen Rundschädel ohne Haar, aber den Rest verstehe ich wieder nicht. Er lacht wie früher auf Bildern in der Weltpresse: kleinäugig. Als man sich die Hand gibt, glaube ich doch nicht, daß er's gewesen ist.
     
     
    BERZONA
     
    Das Schweizer Fernsehen, das um eine Stellungnahme zum Hochschulgesetz bittet, kommt mit Equipe und dreht honorarlos, kann aber den Beitrag nicht senden: es sei denn, daß der Herr Bundesrat, der darin kritisiert wird, darauf antworten möchte, und das möchte der Herr Bundesrat, ein Sozialdemokrat übrigens, nicht. Dafür senden sie jetzt 100 Franken …

Reminiszenz
    Einer unsrer Hauptlehrer in Architektur, Schweizer, war erklärter Anhänger des Nationalsozialismus. Corbusier erwähnte er nur als Exempel für »Kultur-Bolschewismus«. Die Schweiz gehöre natürlich zum Reich, so sagte er, und in Sachen Juden: Jesus kann nicht Jude gewesen sein, lesen Sie wieder einmal das Testament, das Neue, und Sie werden sehen, wie tief und weise das ist, und Jesus war blond, Sohn eines Zimmermanns wahrscheinlich aus dem Norden. Dieser gemütvolle Mann, Professor Friedrich Hess, war nicht untragbar; darüber entscheidet der Bundesrat auf Antrag des Hochschulrates, der vom Bundesrat bestellt wird. Ein andrer Lehrer zur gleichen Zeit, ProfessorHans Bernoulli, unterrichtete Städtebau, was bekanntlich zu soziologischen und ökonomischen Problemen führt; er vertrat damals die Freigeld-Theorie und übte einmal Kritik am Bundesrat. Dieser Mann war untragbar und wurde entlassen.
     
     
    22. 12. 1968
    Apollo 8 im Fernsehen: die drei Menschen auf der Flugbahn zum Mond. Zur Zeit sind sie ungefähr 200 000 Kilometer von der Erde entfernt. Bild: unsere Erde als greller Ball, leider verschwommen. Einmal ein Rudel kleiner Meteoriten, dazu Stimme von Borman, der mit den Leuten in Houston (Texas) spricht. Kein Grund, hier die Pfeife nicht weiter zu rauchen. Ihre langsamen und fischhaften Bewegungen in der Schwerelosigkeit. Einer von ihnen, anzusehen wie ein weißer Embryo, winkt mit der Hand. Das Oben und Unten hat keine Geltung für sie, das ist offensichtlich und erzeugt im Zuschauer vor dem Fernsehschirm, gerade weil er Boden unter den Füßen hat, ein leichtes Gefühl von Schwindel. Technisch bisher alles in Ordnung. Einer leide unter Übelkeit; sein Arzt berät ihn von der Erde aus. Nach der Übertragung sagt man sich: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit usw., dann Sport vom Sonntag.
     
    23. 12. 1968
    Heute gute Erdbilder. Wie man es sich hat vorstellen können: unsere Erde ist ein Planet.
     
    24. 12. 1968
    Sie sind auf ihrer Ellipse um den Mond. Sehr klare Bilder vom nahen Mond; Krater im Seitenlicht, daher mit Schatten deutlich zu sehen, gleiten langsam über den Fernsehschirm,es kommen immer neue, bis man sich zugibt: eigentlich eher trostlos. Aufregung ergibt sich nur aus der Vorstellung, man wäre dort. Was man sieht, bestätigt wieder nur die Vorstellung.
     
    25. 12. 1968
    Die Zündung, die sie nach der Umkreisung wieder aus dem Schwerefeld des Mondes bringt und in die Flugbahn zur Erde, hat stattgefunden. Nochmals Bilder vom Mond, jetzt sozusagen schon bekannt. Alle im Haus und auch Nachbarn schauen es sich an; es fällt niemand viel dazu ein. Erleichterung, daß das Unternehmen glückt, aber man weiß nicht, was man sich davon verspricht. Prestige für die USA. Man sagt sich wieder: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit usw., aber nun wissen wir's schon.
     
    26. 12. 1968
    Geselligkeit im Haus, draußen Winter, ich sitze

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