Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vor der unerledigten Post des Jahres und beschließe Amnestie.
27. 12. 1968
Apollo 8. Heute glückliche Rückkehr zur Erde, die drei weißen Männer wohlauf im Fernsehen. Auf dem Flugzeugträger gehen sie auf einem roten Teppich; indem wir sie sehen, denken wir an Wissenschaft und Technik, an Computer, die das Unternehmen haben gelingen lassen, aber nicht an Helden. Der Sprecher im Fernsehen (Monte Ceneri) versucht mit Emphase, die drei Namen für immer in unser Gedächtnis und das Gedächtnis unsrer Kindeskinder zu pflanzen: Borman – Anders – Lovell. Kein Mensch ist je so weit geflogen wie diese drei harten Männer, wir gönnen ihnen jetzt Ruheund Gesundheit und Beförderung. Unterschied zwischen Borman – Anders – Lovell und beispielsweise Nansen. Das Unternehmen, das uns in Atem gehalten hat, steht in keinem Verhältnis zur Persönlichkeit. Übrigens geben sich die drei weißen Männer auch keineswegs als Helden; sie zeigen sich nur froh, daß sie endlich wieder aus der Kapsel heraus sind: drei Techniker, die den gefährlichsten Job in dem anonymen Abenteuer übernommen haben; es hätte ja auch mißlingen können, und dann verhungerten sie jetzt in einer Umlaufbahn um die Sonne; aber da es gelungen ist, sind nicht sie es, die den Mond umkreist haben, sondern (wie der Sprecher richtig sagt): der Mensch!
Der Traum des Apothekers von Locarno
Das ist eine Gemeinheit! sagt er ruhig, aber laut, so daß er daran erwacht und gerade noch seine Stimme von außen hört: – Gemeinheit! und jetzt erst italienisch: UNA VERGOGNA! È UNA VERGOGNA ! … Was er in diesem Augenblick weiß von seinem Traum: ein Schlotterich von Bischof, der auf beiden Beinen hinkt, vielleicht ein Komödiant, der einen Bischof spielt, aber ein Krüppel ist, und alles in einer Turnhalle.
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Zu jener Zeit ist er Landarzt, IL DOTTORE , als kennten sie seinen Namen nicht; alle im Dorf sagen nur: IL DOTTORE , obschon der Name jahrelang im Telefonbuch steht, am Briefkasten usw., IL DOTTORE , wogegen er natürlich ihre Namen zu kennen hat, sogar die Vornamen ihrer Kinder.
Die Gemeinheit muß eine andere sein.
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Nachdem er an der eignen Stimme erwacht ist und als er auf dem Bettrand sitzt, eigentlich erschöpft, aber im Finstern aufgerichtet, damit der Traum sich nicht fortsetze, und als er Licht macht, ist er nicht mehr Landarzt und eine Weile unsicher, ob er je Landarzt gewesen ist; aber kurz darauf (es dauert jeweils nur wenige Minuten) ist alles wieder im klaren.
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Gemeinheit im Dorf, man braucht sich nicht darum zu kümmern, es geschieht sozusagen nichts, kein Mord seit Jahrzehnten. Tagsüber erscheinen sie freundlich. Gemeinheit aller gegen alle, das ist es, was sie zusammenhält, abgesehen von der Landschaft, die im Winter nur wenig Sonne bekommt. Aber man braucht sich nicht darum zu kümmern, wenn man nicht hier geboren ist. Übrigens hat das Dorf keine Turnhalle.
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IL DOTTORE ! Es tönt höhnisch-höflich.
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Er ist ein Trinker, das weiß er jedesmal, wenn er aufwacht und vergessen hat, was nicht im klaren ist, und soeben ist es noch klar gewesen, vollkommen klar. Eigentlich ein glücklicher Traum.
Der Schlotterich von Bischof, der gar nichts von ihm will, und die Turnhalle haben nichts zu tun mit ihm, ein Scherz sozusagen, ein Zwischenfall; dieser Schlotterich geht ihn überhaupt nichts an, ein Bischof, der auf beiden Beinen hinkt, es ist schauerlich und lächerlich, eine Störung, insofern eine Gemeinheit.
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Er ist katholisch-ungläubig.
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Am Abend davor meint er, daß sie ihn betrogen haben, die Leute vom Dorf, sie haben ihn seit Jahren betrogen, angefangen mit der Wasserrechnung. Er vertraut diesen grünen Scheinen immer aus Bequemlichkeit. Sie sind unverständlich, aber wahrscheinlich gerecht und genau, lochkartengerecht, sie tragen seinen Namen.
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Sie ist natürlich kein Mädchen mehr. Ihre Backenknochen, ihr strenges Haar wie vor zwanzig Jahren. Sie scheint fröhlich, wie er sie gar nicht kennt, und dann hat sie irgend etwas vor. Sie hat keine Angst. Sie redet, aber man ist nicht allein, eine Unordnung ringsum, wofür er sich entschuldigt; es liegen Kinder herum, viele Kinder, nicht ihre Kinder, nicht seine Kinder.
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Er hat nur zwei Mal mit ihr geschlafen.
Sie scheint zu wissen, was aus ihm geworden ist, ein Landarzt, was aber unwichtig ist. Sie ist sehr zutraulich. Es hat gar nichts mit ihm
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