Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Seine Anzüge allerdings, Mäntel, alle noch in gutem Zustand, wenn er sie dem Freund vermachte, waren immer etwas zu groß, vor allem die Ärmel zu lang … Gäbe es eine Instanz, die eine Liste der Dankbarkeiten binnen einer Woche verlangt, so würde ich ferner auf die Liste setzen:
a.
die Mutter
b.
die Tatsache, daß ich sehr früh einem jüdischen Menschen begegnet bin, einem sehr deutsch-jüdischen
c.
der frühe Tod des Vaters
d.
die Erfahrung der praktischen Armut
e.
daß ich nicht nach Stalingrad befohlen worden bin oder in die Reichsschrifttumskammer
f.
eine leichtsinnige Gesundheit
g.
die Begegnung mit Peter Suhrkamp
h.
die Begegnung mit Brecht
i.
daß ich Kinder habe
k.
daß ich die Germanistik aufgegeben habe
l.
alle Frauen, ja, eigentlich alle
m.
das damalige Schauspielhaus Zürich (Kurt Hirschfeld).
n.
die Freude an Speisen
o.
daß ich eine Zeit lang Architektur ausübte. Was dabei wertvoll war: die Erfahrungen mit Bauherrschaft, mit Unternehmern, mit Arbeitern
p.
die Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache
q.
ein Rockefeller-Stipendium
r.
die Späte des Erfolgs
s.
Freundschaft mit Kollegen
t.
die wirtschaftliche Unabhängigkeit in späten Jahren, d.h. mit dem Bewußtsein, daß sie nicht die Regel ist
u.
die Nachbarn im Dorf
v.
Zeiten eines schlechten Gedächtnisses für die eignen Fehler und Versäumnisse
w.
Der Partner, der mit mir lebt
x.
daß Ehrgeiz nachläßt
y.
Träume, auch die schweren
z.
allerlei Glück mit dem Auto
Die Instanz gibt es nicht, die unsere Dankbarkeiten wissen will, ihren derzeitigen Stand, ihren Verbrauch, ihre Zunahme usw. Vermutlich würde man das Formular (A bis Z) alljährlich etwas anders ausfüllen.
21. 7. 1969
Landung auf dem Mond (Armstrong und Aldrin).
Nachricht von einem Hund, der von Calabrien, wo er verloren gegangen ist, in neun Wochen nach Turin läuft, wo er seine Herrschaft glücklich wiederfindet. Jemand vom städtischen Jugendamt berichtet: ein 15-jähriges Mädchen, Waise, verläßt die Ortschaft Cognac (Frankreich) aus Verwirrung, weil sie vom Arbeitgeber vergewaltigt worden ist, und geht zu Fuß nach Basel, wo sie noch eine Tante hat; der Mann dieser Tante vergewaltigt sie. Eine unbekannte Dame, die keine Ruhe läßt, bittet um Rat: ihr Bruder soll demnächst verurteilt werden, weil er einen Juwelier-Laden geplündert hat, vielleicht auch Rauschgift geschmuggelt, und ich sei doch gegen Ungerechtigkeit; ihr Bruder, im Grunde auch Künstler, werde fünf Jahre im Gefängnis nicht ertragen. Nina, unsere Katze, hat wieder ein Junges geworfen; sie hat es gefressen.
Skizze eines Unglücks (II)
In der Nacht stoßweise Wind. Kein Regenrauschen, aber es tönt so. Eine Jalousie, kaputt, schlägt Alarm. Rauschen in den trockenen Bäumen. Er ist wach. Kein Grund, das Bett zu verlassen. Die Fensterscheiben halten stand. Um zwei Gartensessel,die ohnehin kaputt sind, ist es nicht schade. Kein Wetterleuchten, nur Stöße von Wind, wahrscheinlich ist es sternenklar über dem Meer. Was kann schon geschehen? Der Wagen ist in der Garage. Keine Lampe, die baumelt; kein Erdbeben. Später fällt das elektrische Licht aus. Die Vorstellung, daß die Insel am nächsten Morgen überschwemmt sei, das Haus allein auf dem Hügel mit den Oliven. Später sitzt er barfuß im Wohnzimmer, wo er nochmals einschläft, allein im Haus, das standhält. Der Morgen ist blau und gewöhnlich. Ein Sonnenschirm ist gekippt und gebrochen, die Insel nicht überschwemmt. Er erinnert sich nicht, was er in der Nacht alles gedacht hat. Da und dort Äste auf der trockenen Erde. Er frühstückt im Pyjama, überlegt, wer die Jalousie reparieren könnte. Später sammelt er die Äste von dem trockenen Boden, bevor er sich ankleidet, barfuß. Das Telefon ist auch ausgefallen, aber das entdeckt er erst jetzt. Später kommt Post, die zeigt, daß alles weitergeht. Boden unter den Füßen. Es kommt ihm vor, als gebe es Dringlicheres. Die Idee, das Haus zu verkaufen. Er weiß nicht, womit es zu tun hat. Alles ohne Zusammenhang: seine Frau, die auf seinen Anruf wartet, der Sonnenschirm, die Briefe, der blaue und gewöhnliche Tag, seine Schuhe, die er anziehen sollte. Gegen Mittag geht er barfuß zum Strand. Erinnerung an den Wind in der Nacht und an die Allee von Montpellier, die Kreide auf dem Asphalt, die Touristen, das Dorf, kein Grund zum Schrecken. So geht er schwimmen. Kein Boden unter den Füßen, der wolkenlose Himmel über dem Meer.
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